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Anatomie der
Tragödie
So in König Heinrich IV. Lady Mortimer, die Gemahlin Heinrich
Percys, die ihren Heisssporn bei Nacht belauert, wie er im Traume
sich kämpfend abarbeitet, dass ihm der Schweiss von der Stirne rinnt
und sein Gesicht aussieht wie das eines Mannes, der im heftigsten
Rennen plötzlich den Athem anhält. Wenn wir uns den Eindruck
vergegenwärtigen, den das Leiden der Hauptperson auf diese ihr
zunächst Stehenden macht, so kann unsere Theilnahme für sie selbst
dadurch nur gesteigert werden.
Diese Uebereinstimmung des Verhältnisses, in welches sich unser
Gefühl zu den gemeinsam Betroffenen setzt, kann so weit gehen, dass
sie abwechselnd in den verschiedenen Theilen des Stückes als Haupt-
person erscheinen. So beschäftigt uns in Euripides' lphigenie in
Aulis zuerst nur Agamemnon, der sich mit Widerstreben entschliesst,
seine Tochter zu opfern, nachher mehr diese selbst. In der Regel ist
aber doch Eine Hauptperson ununterbrochen Hauptträger des Interesses.
Namentlich treten, wenn ein zerstörtes Liebesglück den Mittelpunkt.
einer Geschichte bildet, beide Betheiligte fast gleich sehr in den
Vordergrund; aber gerade die Liebe selbst wird man doch vorzugs-
weise mit dem einen Theil für den andern empfinden. Der erste ist
dann die Hauptperson "und als solche ein gemischter Charakter. Dem
gegenüber kann der andere Theil, welcher uns mehr nur als Gegen-
stand der Empfindung des ersten gegenübertritt, schon etwas eigen-
thümlicher charakterisirt und dadurch im engeren Sinne liebens-
würdiger erscheinen, weil sich ja gerade an die Eigenthümlichkeiten
des Charakters die Liebe anheftet. S0 ist Clavigo der tragische
Hauptcharakter, gemischt aus rücksichtsloser Selbstüberhebung und
feiner Empfänglichkeit für die reinste Neigung und den Schmerz
über die Verllüchtigung derselben, Maria dagegen nur nach der
letzteren Seite ihm gleich und dadurch mit ihm unglücklich.
Auf der andern Seite sind den aus offenem Gefühl und unnah-
barer Energie gleich gemischten Hauptpersonen auch solche neben-
geordnet, welche nur die letztere rein darstellen, nicht sowohl mit
ihnen empfinden, als ihr Thun bestimmen. In ihnen entwickelt sich
mit harter Consequenz die verhängnissvolle Energie der Leidenschaft.
Mit überlegener Klarheit und Bestimmtheit drängen sie zur Geltend-
machung derselben ohne alle Scheu vor weicheren menschlichen
Regungen, für die sie wenig Sinn und Verstand zeigen. Sie stehen