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Anatomie der Tragödie
von dem Bilde unterscheidet, Welches wir von einem normalen Menschen
im Allgemeinen haben, können stark hervorgehoben sein oder neben
den allgemein menschlichen zurücktreten. Das Letztere ist die Regel
bei den Hauptpersonen guter Tragödien, und es muss so sein, wenn
viele Menschen im Stande sein sollen, das, was Jenen begegnet, mit-
zuempfinden. Denn wenn Jedem gleich etwas auftiele, worin der
Held, der vor ihm erscheint, anders denkt und empiintlet als er und
die meisten andern seines Gleichen, so Würde er sich schwer ganz an
seine Stelle versetzen können, und das muss er, um Mitleid mit ihm
zu haben. Schiller sagt sehr richtig: "wenn wir es nicht fühlen,
dass wir bei gleichen Umständen ebenso würden gelitten und ebenso
gehandelt haben, so wird unser Mitleid niemals erwachen."
Im Charakter der meisten Menschen sind die verschiedensten
Anlagen und Neigungen gemischt, und die Eigenthümlichkeit einzelner
Charaktere beruht nur auf dem Ueberwiegen der einen oder andern.
Soll desshalb ein Charakter in seiner Eigenthümlichkeit dargestellt
werden, wie dies in der Komödie geschieht, so wird eine Seite des-
selben, als alle andern beherrschend und unterdrückend, dargestellt
werden. Die tragischen Helden dagegen geben die widersprechendstcn
Fähigkeiten zum Guten oder Bösen, zur Freude oder Trauer zugleich
zu erkennen. Nur der Drang der Umstände, der auf sie einwirkt,
bringt diese oder jene mehr zum augenblicklichen Ueberwiegen. Ehe
es aber dazu kommt, haben Wir schon zu erkennen Gelegenheit ge-
habt, wie die Fähigkeit dazu von Haus aus gar nicht so überwiegend
angelegt war. So ist z. B. mit Recht von Bodenstedt hervorgehoben
worden, dass Othello sehr mit Unrecht sprichwörtlich ein Ausbund
von Eifersucht ist. Vielmehr zeigt er in seiner schwärmcrischen Liebe
zu Desdemona von vorn herein das argloseste Vertrauen, so dass es
nur dem teuflischen Intriguenspiel des Jago und dem unglücklichen
Zusammentreffen kleiner zweideutiger Zufälligkeiten gelingen kann,
ihn durch die grundlosesten Zweifel an ihrer Treue ins Verderben
zu stürzen. Eben darum aber ist dies gerade so furchtbar ergreifend.
Im Thun und Leiden kann der Mensch den Einwirkungen
fremder Mächte auf ihn einen unbeugsamen Willen entgegensetzen,
oder sich widerstandslos von ihnen beherrschen lassen. Keines von
beidem sehen wir an den Personen, deren Schicksal am reinsten und
mächtigsten ergreifend auf uns wirkt. Jedes von beidem würde diesen