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Michelangelo
der
Decke
querüber gereckten Arm. Sie könnte sonst fast von Raphael sein;
aber in diesem Anne ist wieder die ganze eckige Art der combinirten
Bewegungsaction von Michelangelo hart und charakteristisch ausge-
sprechen.
Fassen wir den Eindruck von allen diesen grossen, gewaltigen
Propheten und Sibyllen zusammen, so kann ich nicht sagen, dass sich
mir überhaupt nach Charakter und Stimmung ein sehr einheitliches
Bild aus ihnen allen ergicbt, sondern vielmehr die Verkörperung eines
möglichst individuell verschiedenen Greisteslebens, meist in Anschlüssen
an Wissenschaftliche Arbeit, aber in allen Abstufungen der Anspannung
oder Zerstreutheit, der Concentration oder des Abspringens, des stillen
Brütens oder der gesteigerten Bewegung, aber eigentlich doch nirgends
der vollen, ganzen Befriedigung in einem grossen Zuge voller Be-
geisterung. Und so repräsentiren sie alle die gesteigerte geistige
Entwickelung, für welche die Kraft und Action der körperlichen
Organe nur noch ein gehorsames Werkzeug ist, nicht mehr, wie im
jugendlichen Naturzustande ein Element, in dem die Seele frisch und
fröhlich sich auslebt. Und so bilden sie den letzten Abschluss der
Reihe von typischen Zuständen, in Welchen uns der Mensch, wie auf
verschiedenen Stufen einer fortschreitenden Entwickelung durch die
ganze Reihe von Bildern an diesen GGWÖlbGZWViCkGlII der Decke
über der Kapelle dargestellt ist, von dem rekelhaft unnatürlichen
Sichgchenlassen der Rüpel durch das kindische Treiben der Karya-
tiden, den freien Anstand der grösseren Kinder und die tüchtige
Dienstbarkeit der Sklaven, über welche sich am Ende das reine
Geistesleben, als letzter Zweck des Lebens überhaupt nach moderner
Culturansicht, erhebt. Und wenn nun alles dies hier so realistisch,
wie leibhaft gegenwärtig, oben rings über den Wänden und um die
Decke dargestellt ist, um da gewissermassen eine ideale Gegenwärtig-
keit der Menschheit, von der niedersten bis zur höchsten Stufe, bei
den heiligen Handlungen, denen die Kapelle dient, zu repräsentiren,
so können wir sagen, verkörpern alle diese Naturmenschen und Geistes-
heroen den sehr ungleichen, activen oder passiven, persönlichen An-
theil, mit dem sie alle bestimmt sind in dem Heilsleben der Kirche
mit aufzugeben, die Einen, indem sie in dunkelem Drange, ohne Viel
Bewusstsein und Gedankeninhalt nur dieselbe Luft mit dem Heiligsten,
das da als gegenwärtig verehrt wird, athmen, die Andern, indem sie