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Michelangelo
der
Decke
scheinlich von einem lebhaften äussern Eindrucke ergriffen. Sie sitzt,
wie die meisten andern, schräg entlang der Kante der Bank, das
rechte Knie hinaufgezogen, den Rücken nach links in die Ecke des
Sitzes gedreht und die rechte Hand, in der ein Endchen eines Papier-
streifens steckt, ruht auf dem erhobenen rechten Knie, wie wenn sie
da etwas auf dem Schoosse vor sich hin gehalten hatte. Der Kopf
aber ist mit weit geöffnetem Mund und Augen stark nach links ge-
dreht und ins Weite gerichtet; der linke Arm dagegen ist quer vor
der Brust hin ausgereckt und hält den flatternden Zipfel des Papier-
streifens weit nach rechts hinüber. Also, denkt man sich leicht dazu,
hat sie dies Papier zwischen beiden Händen vor sich auf dem Schooss
gehalten, während einer der Knaben hinter ihr auf der Bank ein
Buch vor sich aufgeschlagen hat und darin auch noch ruhig zu lesen
fortfahrt; die Sibylle aber sieht sich plötzlich erstaunt nach links hin
um und hält das Papier, wie um es sich möglichst aus dem Wege zu
bringen, nach rechts bei Seite. Die ganze Person macht so einen
wunderbar geisterhaft überraschten Eindruck, und doch ist eigentlich
die ganze Position einfach natürlich aus dem Leben. Neulich sass
mir eine junge Engländerin fast drei Stunden im Eisenbahncoupee
fast genau so gegenüber. Sie hatte sich ebenso schräg in die eine
Ecke gelehnt, das Knie in die Höhe gezogen und hielt ein Buch mit
beiden Händen vor sich auf dem Schooss, um zu lesen. So oft sie
sich aber unterbrach, um nach der Seite zum Fenster hinaus zu sehen,
so war die Sibylle fertig bis auf den Arm, der wieder quer nach der
entgegengesetzten Seite hinüber auslangt; denn beide Hände blieben
im Schoosse liegen. Das Wunderbare ist nun hier aber, dass wir das
nicht sehen, wonach die Sibylle blickt, wie beim Propheten Ezechiel
den nicht, mit dem er so eifrig redet. Etwas wie eine Erscheinung
muss es wohl sein, also zugleich ein Innerliches und doch wie von
aussen an sie Herantretendes. Vielleicht können wir es uns wie sinn-
lieh verkörpert denken in Gestalt des leisen Windstosses oder Luft-
wirbels, der sich da oben am Gewölbe zu fangen scheint; denn der
Mantel, die Locke und der Papierstreifen flattern nach beiden Seiten
von der Sibylle hinweg, und so hat man den Eindruck, dass ihr der
Wind gerade ins Gesicht weht, dass sie ihn mit offenen Augen gleich-
sam einathmet, wie man wohl thut, wenn man auf hohem Berge oder
auf der Spitze eines Schiffes steht. Also ein Hauch von Ekstase