Kapelle zu Rom.
sixtinischen
der
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hat, so fallt ihr Blick dann über das Knie in die Kapelle hinab vor
den Altar, wie der ihres Gegenüber, des alten Propheten Jeremias.
Ihr folgt der Prophet Daniel, ein junger Mann, der zugleich
mit Lesen und Schreiben beschäftigt ist. Denn er hat ein grosses
Buch vor sich auf dem Schoosse aufgeschlagen, und ein kleiner
Knabe, der zwischen seinen Knieen vor ihm steht, muss es ihm mit
dem Rücken stützen helfen. Er selbst aber hat sich mit dem Ober-
körper stark gegen ein kleines Schreibpult zu seiner Rechten hin ge-
bogen und schreibt auf ein an dem Pult befestigtes Blatt. Offenbar
notirt er sich hier nur etwas von dem, was er eben liest, mit einem
Worte: er excerpirt. Die cumäische Sibylle dagegen, die nächste in
der Reihe, ein gewaltiges altes Mannweib, hat ein Buch, neben sich
auf die Bank gestützt, aufgeklappt und blickt steif und unbeweglich
hinein, mit geöffnetem Munde, als spräche sie die Worte aus, die sie
liest; aber es sieht auch nicht aus, als wenn sie zusammenhängend
läse. Sie hat das Buch zu wenig breit vor sich aufgeschlagen und
stiert zu sehr nur von Weitem hinein, etwa als wollte sie nur eine
Zauberformel darin aufsuchen und geheimnissvoll wie beschwörend
vor sich hin aussprechen.
Den Schluss der Reihe bilden wieder zwei jugendliche Gestalten,
der Prophet Jesaias (Seite 133) und die delphische Sibylle (Seite 151),
welche beide besonders deutlich die Unterbrechung eines ruhigen
Studiums durch eine plötzliche neue Anregung darstellen. Der
Prophet hat ein Buch, in dem er gelesen, zugeklappt und seitwärts
unter den Arm geschoben, hält aber doch noch den kleinen Finger
da, wo er gelesen, darin. Die andere Hand ist lebhaft frei in die
Luft erhoben und der Kopf stark nach der andern Seite herum ge-
dreht, also wie einem plötzlichen neuen Impulse folgend. Aber es ist
kein äusserel" Eindruck, nach dem er sich umsieht; denn die Augen
sind fast geschlossen, die Stirn stark in Falten gezogen. Also es ist
ein anstrengender Gedanke, was ihn so plötzlich in seiner Lectüre
unterbricht. Der kleine Knabe hinter ihm, der lebhaft auf ihn ein-
redet und seitwärts hinter sich hin deutet, kann wie eine Personi-
fication dieses Gedankens erscheinen. Die delphische Sibylle aber,
nVOII allen Gestalten des Meisters diejenige," sagt Burkhardt, "welche
Gewaltigkeit und Schönheit im höchsten Vereine offenbart," ist augen-