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der
Michelangelo
Decke
Deeoration sich, wenn sie fertig wäre, ausnehmen würde, dies hat uns
Michelangelo freilich nicht gezeigt. Denn seine Absicht ist ja im
Ernste nicht die Kapelle mit Bändern und Blumen zu deeoriren,
sondern mit Menschen. Aber diese Menschen hier sind nun mit dieser
fingirten Anbringung der Draperien und Guirlanden auf die
studirteste Art wie höchst ernstlich beschäftigt gedacht.
Sie müssen zu dem Zwecke ihre Arme und Beine ebenso
die
sichtig wie künstlich in die verschränktesten Lagen bringen, um
Schlingen und Ballen der Bänder und Guirlanden anzuziehen oder
von der Stelle zu bewegen, ohne selbst ihre Lage auf dem Postamente
zu verlieren. Hier greift eine Hand, um eine Schlinge zu fassen,
hinter einem Fusse hindurch, der nicht aufgehoben werden darf; dort
tritt ein Fuss in eine Schlinge, um sie so, wie sie soll, rund gebogen
zu halten; eine Hand ist hinter dem Rücken durchgesteekt, der sich
nicht erheben darf; eine andere stemmt sich auf den Rand des Sitzes,
um sich daran zu halten. Die ängstlichsten Lagen kommen heraus,
wenn ein dickes Ende einer Guirlande hinter dem Rücken empor-
gehoben ist und im nächsten Momente schwer vornüber zu fallen droht;
denn dann muss sich der Arbeiter etwas von der Wand ab und vom
Sitze in die Höhe heben und sich daneben mit Händen und Füssen
noch eine Unterstützung zu sichern suchen, um sogleich wieder Posto
fassen zu können. Nirgends kann ich ein naehlassiges Spiel der Be-
wegungen erkennen. Von einem der Jünglinge, rechts über der lybi-
schen Sibylle, sagt Springer, er habe "im Uebermuthe des Lebens-
genusses ein Bein unterschlagen, einen Arm um den Kopf gelegt und
strecke so den Körper behaglich aus". Ich linde, dass er sich sehr
vorsichtig mit dem untergesetzten Fusse etwas über seinem Sitze er-
hebt und sich mit sehr gezwungener Biegung beider Arme einen
Zipfel der Draperie über den Kopf hinweg aus der einen in die andere
Hand zu reichen versucht, u. s. w.
Also meiner Meinung nach offenbart Michelangelo an diesen
famosen Kerlen seine Virtuosität in der Darstellung des nackten leben-
den Körpers und seine Eigenart in der Motivirung der complicirtesten
Stellungen aller Glieder im Gegensatze zur Antike in der Art, dass
sie die künstlichste, gezwungenste Indienststellung der Organe zur
Ausführung einer Arbeit ausdrückt, die unter den schwierigsten Um-
ständen ausgeführt werden muss. Da hilft kein freies, graziöses Spiel