Kapelle
sixtinischexm
der
zu Rom.
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seine Glieder zu brauchen und zu irgend einem Zwecke anzustrengen;
oder aber aus stärkerer, Wenn er sich mit seiner geistigen Intention
oder Aufmerksamkeit auf irgend einen bestimmten einzelnen Zweck,
wie z. B. eine technische Arbeit zuspitzt, zu dessen Erfüllung nur ver-
einzelte Handgriffe nöthig sind ohne Betheiligung vieler anderer
Glieder, und ganz besonders, wenn bei rein geistiger Thätigkeit der
Gebrauch der körperlichen Organe etwa mit Ausnahme der Augen
und Hände ganz unbetheiligt bleibt. So repräsentiren die Menschen
des Michelangelo theils unreifere, priinitivere, theils höher cultivirte
Geisteszustande als das fröhliche, kräftige Vollgefühl des vollen Lebens
im Leibe, wie es die Antike als mittleren Normalzustand des Menschen
darstellt, und dieser Eindruck ist dadurch gesteigert, dass Michel-
angelo uns auch alle Altersstufen vom Kinde bis zum Greise vor
Augen stellt, während sich die Antike an die mittlere Stufe der reifen
Jugend oder vollen lllanneskraft halt. Damit giebt Michelangelo also
dieser vollen Kraftentfaltung des menschlichen Lebens nicht den reinen
Ausdruck wie die Antike, dafür aber ein um so tiefsinnigeres Bild
des ganzen Menschendaseins in seinem Werden, Wachsen und Aus-
gange. Und diese Stufengänge, in denen das volle Bild der reifen
Kraft nur ein Durchgangsmoment ist, durchläuft er wie nirgends sonst
in diesen Deckenmalereien.
Weiter folgt aus dieser Art Haltung der Menschen, wie sie Michel-
angelo im Gegensatze zur Antike darstellt, noch eine Ausdehnung der
Action, die wir darin erblicken, über den einen dargestellten Moment
hinaus. Denn indem ein bestimmter Grund und Impuls momentan
nur den Gebrauch einzelner Glieder motivirt, verharren die übrigen
in Lagen, die sie, man kann sagen: zufällig eben zuvor gehabt haben.
Zuvor aber hatten auch diese einen Grund in einer willkürlichen Ab-
sicht, und wenn dies noch erkennbar ist, so erblicken wir in diesem
Bilde nachträglich auch noch eine vorhergegangene Action, und im
Fortgange von dieser frühern zu der augenblicklichen Action sehen
wir vielleicht zugleich auch eine bevorstehende sich vorbereiten.
Lessing hat diese Ausdehnung dessen, was die bildende Kunst über
den einen dargestellten Moment hinaus zur Anschauung bringen kann,
theoretisch begründet durch seine Aufstellung des Begriffes von dem
"fruchtbaren Momente" , welchen der Künstler aus der Reihe von
Acten einer zusammenhängenden Handlung zur Darstellung auswählen
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