der sixtinischen Kapelle
zu Rom.
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aufrechten Wand bis zum Gesimse hinauf. Dann dürfte man z. B.
nicht, wie es doch gemalt ist, noch auf die Ränder der Platten hinauf-
sehen, auf welche die Sibyllen und Propheten ihre Füsse setzen.
Aber es ist doch durch diese architektonische Gestalt ihrer Sitze der
Ort, wo
auffecht
sie sich beiinden,
denken sollen.
als Bildfläche
charakterisirt,
die
wir
uns
als
Ferner aber auch für die Art von Gestalt und Bewegungen des
menschlichen Körpers, welche die Werke des Michelangelo mehr ihrem
Inhalte nach, ich möchte sagen: als ihr Realprincip durchdringt, sind die
Figuren an diesen Gewölbezwickeln besonders typisch (vgl. den vorigen
Vortrag). Die Menschen des Michelangelo unterscheiden sich von denen
der Antike zunächst im Wurf und Umrisse ihrer Gestalten dadurch, dass sie
nicht leicht und schlank und in iliessender Bewegung aller Glieder nach
Hauptlinien vor uns dastehen oder einherschreiten, sondern in meist
ziemlich vertracten, eckigen und stark eontrastirenden Biegungen und
Renkungen ihrer Glieder dasitzen oder liegen, oder knieen. Dies
macht nun häufig auf den ersten Blick den Eindruck einer gewissen
ausbündigen Gewaltigkeit, weil sich grosse plumpe Körpertheile, wie
Schultern, Hüften und Kniee in diesen Lagen auffälliger hervordrangen
als bei massvolleren, gefalligeren Körperstellungen. Man irrt aber,
wenn man hieraus, wie das häufig geschieht, den Schluss macht, dass
Michelangelo einen besonderen Aufwand von Kraftentwickelung in
seinen Gestalten zum Ausdruck bringt. Er muthet zwar den Knochen
und Gelenken mit der eckigen Biegung der Gliedmassen hierhin und
dahin viel zu, er thut ihnen insofern Gewalt an; aber wir haben
durchaus nicht nöthig, uns als Grund und Ursache davon mehr Kraft-
anstrengung der activen Bewegungsorgane, der Muskeln von Seiten
der dargestellten Menschen hinzu zu denken. Im Gegentheil: die
schlankeren, leicht gefalligen Haltungen im Stehen und Gehen, wie sie
die Antike darstellt, erfordern mehr elastische Kraft und sichere will-
kürliche Anwendung derselben. Denn der Mensch ist kein Thurm,
dessen Steine oder Balken fest über einander aufgebaut sind; er ist
auch kein Pferd, das im Stehen schlafen kann: sondern er muss sich
von den Füssen bis zum Kopfe, von Gelenk zu Gelenk aufrecht und
frei schwebend in die Luft hineintragen und auf den Füssen balan-
eiren. Dahingegen jene für das Auge auffallenderen Biegungen und
Versehrankungen der Glieder im Sitzen, Liegen oder sich zusammen
Henke, Vortritgv. 9