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Michelangelo
des
Die Menschen
Halbvergessen des Körpers die gesteigerte Geistesentwicklung der
Welt, welche das frische, fröhliche Leben im vollen Gebrauche der
Kraft schon hinter sich hat.
Diese beiden im Grunde so verschiedenen, in ihrer Aeusserung
doch so verwandten Zustände sind es nun also, welche uns Michel-
angelo in sprechendster Lebendigkeit darstellen kann und oft dicht
nebeneinander stellt als zwei in der Stimmung harmonirende, im Geiste
doch tief verschiedene Typen der Menschheit. Er unterscheidet sie
aber auch für das Auge auf das vollkommenste schon durch einen
sehr einfachen Kostümunterschied: die einen sind Vollständig nackt,
die anderen ganz bekleidet; halbnackte Gestalten kennt er fast gar
nicht. Sodann aber hat auch die Haltung zwar bei beiden jenen
gemeinsamen Zug des Bequemen, Nachlassigen, Zerstreuten, aber die
Stellung ist doch der Regel nach eine typisch verschiedene. Die
meisten griechischen Figuren sind stehend, die nackten von Michel-
angelo liegend, die bekleideten sitzend dargestellt. Dies gilt natürlich
nur von Einzeliiguren, nicht von denen in componirten Bildern; die
am meisten charakteristischen Werke von Michelangelo sind aber
auch, wie die Antiken meist solche einzeln für sich hingestellte
Menschen, mögen sie nun von Stein oder gemalt sein, da er doch
seiner ganzen Anlage nach mehr Bildhauer als Maler ist; und nur
durch Nebeneinanderordnung von mehreren oder vielen einzelnen wird
daraus doch ein grösseres zusammenhängendes Werk, in welchem sich
die grössten Gegensätze von einander abheben und ergänzen "können.
So zeigen es in grossartiger Einfachheit die Grabmäler der Mediceer
mit den schon erwähnten grossen nackten allegorischen Figuren und
den sitzenden "Porträtstatuen der Herzoge (larüber, so (lagegen in
reichster Fülle der grösste Theil des Riesenwerkes seiner Jugend, der
Decke der sixtinischen Capelle, die er in kaum 4 Jahren mit eigener
Hand gemalt hat. Abgesehen von Wenigen grösseren Gemälden, wozu
die Erschaffung Adams gehört, ist sie mit einer gemalten Architektur
bedeckt, in deren Bogen und Nischen eine ganze Welt von Einzel-
iiguren oder kleinen Gruppen von der verschiedensten Grösse und
Abstufung des Ausdrucks vertheilt ist.
Zu den nackten, liegenden Gestalten gehören schon die meisten
der bereits erwähnten, und wenn diese auch als besonders hervor-
ragende Werke ihre eigene Bedeutung als Darstellung des Schlafes