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des Michelangelo
Die Menschen
dabei kein einziges Gelenk irgend auffallend ausgegriifen hat. So-
lange wir nicht ermüden, glauben wir bei dem gewöhnlichen Gebrauch
unserer Glieder eigentlich gar nichts gethan zu haben, und das ist
gerade die normalste, tüchtigste Thätigkeit derselben, dass sie für den
gewöhnlichen Gebrauch eingewöhnt sind zu arbeiten, ohne dass wir
es wissen, ohne dass wir uns mit Ueberlegung und Willen darum zu
kümmern brauchen. Nur das Kind, das laufen lernt, weiss, dass es
ein Füsschen nach dem andern aufhebt und, solange es das eine auf-
hebt, auf dem andern allein seinen Körper aufrecht balancirend halten
muss. Wenn wir dagegen allerlei wunderliehe und extreme Stellungen
einnehmen, auf die wir nicht fest eingeübt sind, wenn wir ohne her-
kömmlichen Zusammenhang jetzt diesen Fuss, jetzt diese Hand so oder
so weit um die Ecke verdrehen, so machen wir uns wohl eher klar,
und es ist auch ersichtlicher, dass wir etwas gethan haben, wenn
auch weniger Anstrengung von Muskeln dazu gehörte als zu jedem
Schritte beim Gehen, von dem wir gar keine Notiz nehmen. Ver-
suchen Wir die Bewegung weiter zu treiben als es geht, so können
wir Widerstand, ja Schmerz empfinden, weil sich die Knochen in den
Gelenken nicht weiter drehen lassen; bleiben wir einige Zeit in
solchen ungewöhnlichen Stellungen, so wird es uns unbequem und
die Gelenke thun uns weh, ohne dass wir hernach eine Ermüdung,
wie von eigentlicher Arbeit fühlen. Beim normalen Gebrauche der
Glieder kommt es meist nie zu diesen Verdrehungen der Gelenke,
dafür aber zu einer gesunden Abarbeitung der Muskeln. Also die
extremen Stellungen der verschiedensten Art, wie sie Michelangelo
darstellt, sehen gewaltsam aus, machen auch die möglichsten Ansprüche
an den Mechanismus, an die Knochen und Gelenke, erfordern aber
durchaus nicht mehr als andere Anstrengung der activen Organe, der
Muskeln, eher weniger. Der Mensch, der solche Lagen einnimmt,
weiss mehr, dass er etwas thut, aber der, welcher nur einfach geht
und steht, thut viel mehr und kümmert sich nur weniger darum, weil
er durch lange Uebung gewohnt ist, dass es ganz von selbst geht.
Bei diesem Punkte gerade, bei dem Bewusstsein, das wir von
dem Gebrauche unserer Glieder haben, dem Verhältnisse also zwischen
der geistigen Thätigkeit und der körperlichen, müssen wir noch etwas
eingehender verweilen, wenn wir wissen wollen, was geistig durch
die einen oder anderen Stellungen des Körpers ausgedrückt werden