Buonarroti.
Michelangelo
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bedeutende Ansätze, aber eine völlige Einheit war bei seinem grossartigen
Werke, das Michelangelo höchst wahrscheinlich kannte, schon dadurch
ausgeschlossen, dass er seine Darstellung in eine Reihe von Bildern zer-
legen musste, während Michelangelo die riesige Wandfläche hatte, auf
der er das Ganze zusammenfassen konnte, und es gelang ihm, diese Fläche
zu beherrschen und eine einheitliche, klare und, soweit dies bei dieser
Ausdehnung möglich, auch eine übersichtliche Composition zu erreichen.
Der Moment, den Michelangelo wählt und der das Ganze beherrscht,
ist klar: Christus fährt eben auf, um die Verdammten niederzuschmettern.
Engel schleppen die Marterwerkzeuge als die Zeugnisse seines Leidens
herbei; ängstlich schmiegt sich Maria an ihn; erschreckt fahren die
Heiligen zusammen, oder Rache fordernd zeigen sie die Instrumente, mit
denen sie gemartert wurden; der Schrei, den sie bei ihrem Leiden um
Christi willen ausgestossen, er gellt hier wieder und fordert grässliche
Sühne; sieben gewaltige Engel stossen in die Posaunen, um den jüngsten
Tag zu verkünden. Zur Rechten Christi steigen die Seligen empor, zur
Linken werden die Verdammten herabgestürzt. Unten erstehen aus den
Gräbern die Todten, und jagt Charon die Verdammten aus seinem Nachen,
und schleppen sie die Teufel zur Hölle.
Der Grundgedanke der Composition war bei Michelangelo der gleiche,
wie bei seinen Vorgängern bis zu dem Fresko im Campo santo in Pisa, ja
bis zu den ältesten Darstellungen des jüngsten Gerichtes. Christus be-
zeichnet die Mittellinie; der Raum, den die Seligen und die Verdammten
erhalten, erscheint fast gleichwerthig und doch ist es so ausschliess-
lich der Tag der Rache, den Michelangelo darstellt. Es bedingt dies
theils der oben bezeichnete Moment in der Auffassung Christi, dann die
entschieden grössere, künstlerische Bedeutung der Verdammten, vor Allem
aber auch das eigenartige, für Michelangelo so charakteristische Wesen
der Seligen. Schönheit und Anmuth oder gar seelenvoller Friede, die
zur Rechten Christi das Versöhnende zeigen, uns im jüngsten Gerichte
nicht nur den Tag der Rache, sondern auch den des Lohnes erkennen
lassen sollen, sind hier nicht zu finden; die Seligen Michelangelds sind
ein mächtiges Geschlecht, das zum Himmel mehr emporstürmt als
schwebt, dessen Glück nicht in einem friedlich heiteren Dasein, sondern,
wie auch die Gestalten des Himmels zeigen, in einem grösseren, mäch-
tigeren Leben besteht. Den Sinn für das Kindliche, für das heitere und
friedliche Glück hatte Michelangelo verloren; er lag ihm so fern, dass er
selbst seinem Himmel keinen Zug davon mehr einhauchen konnte; er
kennt keine Engel mehr, die selige Kinder, und so muss er hier Alles
abstreifen, was an die ältere Kunst gemahnt, ebenso wie auch sein
Christus ein anderer als der seiner Vorgänger, nicht aus Sucht nach
Originalität, sondern weil sein Wesen und Wollen ein völlig anderes als