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Michelangelo Buonarroti.
zeigt, wie sie nur durch die grösste Kraftäusserung gerechtfertigt wäre;
man hat gemeint, in dem mächtig wallenden Barte, der grossartigen
Draperie über dem rechten Knie sei der Meister zu sehr von der Schau-
stellung seiner Kunst geleitet worden; man hat getadelt, dass Hals, Stirn
und Kinn zu klein, die Schultern dagegen mit herkulischer Kraft gebildet
sind; man wird diesen Aussetzungen im Einzelnen nicht widersprechen
können, und doch scheinen sie unberechtigt vor dem Werke selbst; keinen
Zug können wir an demselben geändert denken, ohne dass es an seiner
mächtigen Wirkung einbüsse. Michelangelo schafft eben Menschen, die
mächtigerer Empfindung fähig sind, welche die Kraftäusserung in einem
Momente üben, die wir, in verschiedene zerlegt, entwickeln müssen; er
wagt es hier wie bei den Tageszeiten, die ewigen Gesetze der Natur als
lästige Fesseln zu beseitigen; gerade in den Zügen aber, die zuerst will-
kürlich erscheinen, spricht sich erst ganz das Titanische seines Wesens
aus; in Wahrheit sind sie bei ihm nicht willkürlich, weil sie durch das
gewaltige Leben, das er seinen Figuren einhaucht, begründet sind. Wie
diese scheinbaren Willkürlichkeiten durch das Gewaltige seiner Kunst
berechtigt sind, ja, es erst ganz zum Ausdruck bringen konnten, so auch
der kolossale Massstab, in dem er arbeitete; die grossen Gedanken bedurften
grosser Formen, um zu ihrer vollen Wirkung zu gelangen; nur bei ihm
aber, wo es durch seinen gewaltigen Geist bedingt war, hatte das Kolossale
seine ganze Bedeutung, wie jene Willkür ihr Recht; man übertrieb später
noch die gewaltsamen Motive, aber sie entbehrten der inneren Begründung;
man steigerte noch die Grösse der Figuren, aber es fehlte der Geist, sie
zu beseelen.
1534-1541 malte Michelangelo im Auftrage Paul III. ganz allein
das riesige Fresko des jüngsten Gerichts an der Altarwand der sixtini-
schen Kapelle. Wie einst bei den Fresken der Decke ging der Künstler
auch hier widerwillig an das Werk, zu dem er den Karton auf eine
Bestellung Clemens III. hin vollendet hatte; es ist das letzte grosse
Werk, das der Künstler zu Ende führte, denn das erst vier Jahre später
aufgestellte Grabmal julius II. gehört ja wie gesagt seinem
Entwurf, zum grössten Theil auch seiner Ausführung nach früheren
Perioden an.
Auch das jüngste Gericht erfasst Michelangelo charakteristisch als
von einer Aktion, von einem Schlage kann man sagen, beherrscht 1), und
dadurch gelangt er zu einer völlig neuen, einheitlichen Auffassung; er ist
es, der zuerst das Unten undOben verknüpft; von all seinen Vorgängern
zeigt hierzu, abgesehen von der naiven Weise Fiesole's, nur Signorelli
Werkes schildert trefflich
3. Auflage V. 156.
1) Den dramatischen Charakter des
Zusammenhange der Kulturentwicklung.
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