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Buonarroti.
Michelangelo
der Sakristei von S. Lorenzo in Florenz meist einen düstern, schwer-
müthigen Ausdruck gewinnen. Als das Werk eines so jugendlichen
Künstlers ist die Madonna auf der Treppe natürlich noch etwas befangen,
aber doch lässt sie schon deutlich die Grundzüge seines eigenartigen, weib-
lichen Ideals erkennen. Wenn bei den Florentinern der Frührenaissance
und bis zu den früheren Werken Raphaells der hohe Liebreiz, das An-
muthige vor Allem, die Madonna beseelen und die Porträtzüge, die ihr
häufig eigen, erzählen, wie den Künstler das, was ihm im Leben Glück
und Friede brachte, oder wovon er dies wenigstens hoffte, zu seinen
Madonnen anregte, so steht Michelangelo dem Allen fremd gegenüber;
jene suchen eben die Natur zu idealisiren, Michelangelo dagegen will aus
seinen Gedanken und Empfindungen eine neue, grössere und bedeutendere
Natur schaffen. Das Fehlen individueller Züge bei Michelangelo erinnert viel-
leicht Manchen an die Werke mittelalterlicher Kunst, aber der Grund ist hier
ein völlig anderer; während nämlich die mittelalterlichen Künstler die indi-
viduellen Züge nicht wiedergeben, weil sie dieselben noch nicht sehen, weil
sie noch nicht ganz aus der Natur heraus, noch nicht völlig naturwahr
schaffen können, so verschmäht Michelangelo hier das Individuelle, weil es
ihm zu alltäglich, zu klein für seine Welt ist; erreichen daher jene unbewusst
einen gewissen Schein des Idealen, so ist Michelangelo im Gegensatze
dazu der bewusste Idealist, dessen Welt ausserhalb der unserigen liegt.
Obgleich Michelangelds Madonnen jener individuellen Züge entbehren, so
sind sie doch höchst individuelle Schöpfungen und sprechen einen wesent-
lichen Zug seines Charakters aus. Michelangelo sucht in seinen Madonnen ein
grosses, von allem Kleinlichen befreites Ideal zu verkörpern, das Anmuthige
und Liebliche des Weibes zieht ihn wenig an und auch das zarte, herz-
liche Verhältniss zwischen Mutter und Kind tritt bei seinen Werken gewiss
nicht in die erste Linie; bei der Madonna auf der Treppe birgt sich das
Kind fast schüchtern in die Falten des Mantels, und die edle, hoheitsvolle
Gestalt der Mutter beugt sich nicht zu dem Kinde herab, und doch besitzt
sie, bei der man noch am ehesten an Anregungen durch die schlanken
Gestalten schöner Florentinerinnen erinnert wird, noch einen weichen Zug,
der bei den späteren Werken schwindet.
In ernste Gedanken versunken, scheinbar kaum des vor ihr stehenden
Kindes achtend, blickt die Madonna von Brügge sinnend vor sich hin.
Am vollendetsten sprechen Michelangelds Madonnenideal wohl die runden
Reliefs in Florenz und London aus; die Kinder haben hier noch einen
gewissen gemüthvollen Zug, der später schwindet, die Madonna ein hohes,
edles Wesen. S0 zeigt schon, allerdings noch im Keime, die Madonna
auf der Treppe Michelangelds weibliches Ideal einfach, gross, edel und
voll tiefen Ernstes; die Anmuth und das Holde am Weibe blieben ihm
verschlossen wie das Zärtliche und Innige; er strebt auch hier nur nach