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Bellini.
Giovanni
stadt dem Meere abgerungen und sie zur glänzendenWeltstadt gemacht.
Die drei übrigen Seiten der piazza umfasst der Marmorpalast der Procurazien,
einst die Wohnung der höchsten Beamten der Republik, dessen nördlicher
Tlieil Ende des I5. Jahrhunderts, dessen südlicher 1584, der östliche Ver-
bindungsbau dagegen erst 1810 hergestellt wurde.
Südlich an S. Marco schliesst sich die piazetta mit dem Dogenpalast
auf der Ostseite, dessen malerisch-phantastische Architektur den Charakter
des Palastbaues im späten Mittelalter für Venedig und das angrenzende
Festland bestimmte, Während gegenüber die Bibliothek des Jacopo Sansovino,
einer der schönsten Bauten der Renaissance, dessen anmuthig-graziöse
Dekoration, gesteigert in das Reiche und Ueppige des Barock, mehr denn
zweihundert Jahre die Motive für den Profanbau V enedigs und der Um-
gegend lieferte. Zwischen den stolzen Palästen aber ragen die beiden
mächtigen Granitsäulen empor, die im Jahre II20 der Doge Michiel aus
Syrien hierher brachte, von denen der hl. Theodor als der Patron Venedigs
und der Löwe des hl. Markus herniedersehen. Am Fusse dieser ehr-
würdigen Säulen sitzen wir, hinüberblickend nach dem vom klaren, glän-
zenden Lichte umflossenen Kirchen S. Giorgio und S. Maria della salute,
und seitwärts sehen wir in die Mündung des canal grande, jener Strasse,
die einzig in der Welt, deren Paläste ehrwürdige Reste aus dem I3. und
phantastisch-malerische aus dem I 5. Jahrhundert bergen, deren graziöse
Frührenaissancebauten von dem Sinn der Venezianer für Anmuth und
Schönheit, deren pompöse Prachtbauten der Spätrenaissance von dem
immer noch glänzenden Leben auch des nun schon sinkenden Venedigs
erzählen. Das ist das stolze, phantastisch-reiche, das glänzende Venedig,
das die Italiener nicht müde wurden, zu malen, das jedem, der es gesehen,
unauslöschlich in der Erinnerung bleiben wird; das Venedig, aus dem
Tizian erwuchs, der weltbeherrschende Colorist, ohne den weder die
niederländischen, noch die spanischen Coloristen, ohne den weder Rubens
und van Dyk, noch Valasquez denkbar sind.
Wer aber Tizian studiren will, darf sich nicht auf Venedig be-
schränken; er wird sich zwar zuerst nach Venedig wenden, um den Boden
kennen zu lernen, auf dem der grosse Meister erwuchs und die Kunst und
Natur, die ihm Anregung für sein Schaffen boten; er wird aber trotz der
zahlreichen, hochbedeutenden Werke des Meisters, die Venedig aus ver-
schiedenen Perioden seines Schaffens besitzt, die ganze Grösse desselben
doch nur zu erkennen vermögen, wenn er die Galerien Europas durch-
wandert, die sich in den reichen Besitz von Tizians Werken theilen.
Charakteristisch für die Kunst, wie für die historische Stellung Tizians
darf man sich, um ein ganzes Bild von ihm zu gewinnen, nicht auf die
Stadt seines Wirkens beschränken, sondern kann ihn nur in der ganzen,
künstlerisch gebildeten Welt studiren.