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Dürefs
Kunst fürs Haus.
unverkennbar beschäftigen diese Gedanken den Meister jetzt weit aus-
schliesslicher, greift er sie jetzt viel tiefer und feiner auf. Dies belegt
schon der Vergleich des Titelblattes und der vier 1510 gezeichneten
Blätter der grossen Passion mit den übrigen früher entstandenen Bildern
derselben Folge; oder man vergleiche unter den Stichen, wo diese Dinge
noch schlagender, weil wir da die direkte Hand Dürer's vor uns haben,
etwa den frühen Stich des „Ecce homo" (B. 20) mit dem Blatte gleichen
Gegenstandes von 1512 und man wird leicht erkennen, wie gegenüber
der ausserlichen und drastischen Darstellung des Schmerzes in dem
älteren Stiche, der spätere ein viel feineres, tieferes und edleres Em-
pfmden zeigt.
Wesentlich anderen Charakters als die grosse, ist die kleine Holz-
schnittpassion; sie ist so recht das volksthümliche Hausbuch, nicht nur
eine Darstellung der grossartigsten und künstlerisch interessantesten
Momente der Passion, sondern, wie es das Volk haben will, eine voll-
ständige, ausführliche Erzählung der Geschichte in sechsunddreissig Bildern.
Sie beginnt mit den Ereignissen, welche die Erlösung nöthig machten,
mit dem Sündenfall und der Vertreibung aus dem Paradies, von denen
besonders das erstere durchdie echt dramatische Auffassung des Momentes
der Verführung von grossem Interesse. Es folgen die Verkündigung und
Geburt Christi, ferner fünf Scenen aus dem Leben Jesu gerade vor der
Passion, dann diese selbst in neunzehn Bildern, nach dieser noch die
Auferstehung, die Erscheinungen des Auferstandenen, Himmelfahrt, Pfingst-
fest und zum Schlusse noch das jüngste Gericht. Die Scenen, die mit
den anderen Passionen in Parallele stehen, sind durchweg neu erfunden,
die Komposition dem Format und der Anlage des Ganzen entsprechend
sehr einfach auf möglichst wenige Figuren beschränkt, aber frei und
äusserst mannigfaltig. An Tiefe des Empfindens steht die kleine Passion
hinter den anderen Folgen nicht zurück, ja einzelne Blätter, wie z. B. das
so ganz originelle, wie Christus ans Kreuz genagelt wird, die Klage um
Christus am Kreuzesstamm oder die Bestattung seines Leichnams gehören
zu den ergreifendsten Schöpfungen Dürer's; mit Bedauern sieht man
gerade hier jedoch, selbst bei guten Originaldrucken, dass durch den
Holzschneider so mancher bedeutsame Zug der Dürer'schen Zeichnung
verloren ging.
Das aber ist nun der grosse Vorzug der gestochenen Passion, dass
hier die Ausführung bis zum Druck von Dürer selbst mit der grössten
Sorgfalt bis zum letzten Striche vollendet wurde; zu ihr werden wir daher
vor Allem greifen, um die Feinheit der Dürefschen Charakteristik zu
studiren, um zu beobachten, wie er bis in die kleinste Falte den herben
Schmerz, das tiefe Leid verfolgt, das den Körper durchzittert, wie er
andererseits das ruhig Duldende, das Milde und Edle in dem Kopfe