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Haus.
fürs
Düreu-"s Kunst
Zunächst ging Dürer an die Vollendung der beiden grossen Werke,
die er seit der venezianischen Reise, obgleich sie schon weit gediehen,
liegen gelassen, und brachte sie ISIOIII zum Abschluss, indem er vier
Blätter und das Titelblatt zur grossen Passion, drei und das Titelblatt
zum Marienleben zeichnete; so gab er 1511 die Passion mit zwölf, das
Marienleben mit zwanzig Blatt heraus, dazu die Apokalypse in zweiter
Auflage, bereichert mit dem schönen Titelblatt, ferner die kleine Passion
in sechsunddreissig Blättern, in der zwei I 509 und 1510 datirt sind, und
ausserdem gehören diesen reichen Jahren noch mehrere herrliche Einzel-
blätter unter den Holzschnitten an, wie der hl. Hieronymus bei seiner
Arbeit, die hl. Dreifaltigkeit, die Messe des hl. Gregor u. a. m. Die vier
Holzschnittfolgen wurden in der Form von Büchern veröffentlicht; die
Apokalypse mit dem lateinischen, biblischen Texte; zu dem Marienleben
und den beiden Passionen schrieb der Benediktiner Chledonius lateinische
Distichen, die jedesmal auf die Rückseite des gegenüberstehenden Blattes
gedruckt wurden. Im folgenden Jahre, I 512, fügte Dürer zu diesem
unvergleichlichen Schatz fürs deutsche Haus noch ein fünftes, cyklisches
NVerk, nämlich die Kupferstichpassion, an der er seit 1507 arbeitete.
Eine eingehende Vergleichung der drei Passionen, auf die mit einigen
feinen Bemerkungen schon Springerl) hingewiesen, gehört zum Inter-
essantesten bei dem Studium von Dürer's Kunst fürs Haus. Vor Allem
staunen wir bei dem Vergleich über den grossartigen Reichthum von
Dürer's Phantasie, wie er das Thema ohne Wiederholungen so rasch
hinter-, ja theilweise offenbar nebeneinander behandelte. Man sucht un-
willkürlich nach Aehnlichkeiten, besonders die Kleine und die Kupfer-
stichpassion mögen dazu locken; aber wer nur irgend feiner beobachtet,
wird nicht diese, sondern stets Unterschiede finden, und zwar nicht nur
durch die ausserordentliche Fülle der Kompositionsmotive und durch die
Verschiedenheit der Charaktere, sondern vor Allem auch dadurch, dass
jedes Werk einen speciellen Grundton, eine einheitliche, eigenartige Auf-
fassung zeigt.
Die grosse Passion erhielt diesen Namen aus einem rein äusserlichen
Grunde, wegen ihres Formates, sie verdient ihn aber auch nicht minder
wegen ihres ganzen Charakters. Dürer's Streben nach einfach gross-
artiger NVii-kung tritt in keinem seiner Holzschnittwerke so bedeutend zu
Tage wie hier; zum Studium für seine epochemachende Stellung in der
Geschichte der Komposition wird man sich in erster Linie an dieses
NVerk wenden, das zeigt, wie grossartig, mit welch tiefem Ernst und mit
wie mächtiger Charakteristik er das gewaltige Drama gestaltete. Wie
erschütternd wirkt das Titelblatt: Der leidende Christus mit der Dornen-
1) Bilder zur neueren Kunstgeschichte II. Bd.