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Zwei
Mönche von
Marco.
der Künstler wieder mehr seiner eigenen, freien Anschauung nachging,
zeichnete er wieder fleissig nach dem Nackten, dessen er auch bei seinem
Streben nach schöner freier Bewegung am allerwenigsten entrathen konnte.
Im Jahre I498l99 zeigt sein jüngstes Gericht, in der folgenden Zeit aber
beweisen vor Allein seine Zeichnungen, dass er das Studium des Nackten
mit unentwegtem Eifer fortsetzte. Um nur eines herauszugreifen, verweise
ich auf die in den Uffizien befindlichen Studien zu dem Bilde der Anna
selbdritt; das eine dieser Blätter, eine Federzeichnung, giebt die ganze
untere Partie dieses Bildes in nackten Figuren; interessant sind übrigens
bei einem Vergleich dieser Studie mit dem Bilde die Aenderungen, die
der Meister auf demselben vornahm, daran schliessen sich noch drei
Blätter mit Röthelzeichnungen, Studien zur Maria mit dem Kinde auf
diesem Bilde, die offenbar nach einem nackten Modell gezeichnet sind,
auf einem der Blätter sind noch zwei zu dem kleinen Johannes, sowie eine
zu einem fliegenden Engel.
Fra Bartolommeo, der zuerst in die Schule Cosimo Rosellis
ging, scheint zu dieser Art des Studiums, mit der er offenbar von
grossem Einfluss auf Raphael war, durch die Anregungen der Werke
Leonardds gekommen zu sein, deren _Studium durch ihn Vasari 1) nach-
drücklich bestätigt. Am klarsten spricht sich dies wohl in der Kompo-
sition aus, in deren von der Kunstforschung leider oft noch zu wenig
beachteter Geschichte Bartolommeo eine hervorragende Stellung einnimmt,
schon wegen der wesentlichen Anregungen, die er gerade hierin Raphael bot.
Bartolommeds Streben nach einer edlen, grossen und würdevollen Kunst
forderte eine einfach klare Komposition, er gewann sie bei der Zusammen-
stellung der Maria oder Christi und einer Anzahl Heiliger, die ja den Vor-
wurf seiner meisten Bilder ausmachen, dadurch, dass er die Hauptperson
etwas erhöht, in die Mitte stellte oder setzte, die übrigen in zwei möglichst
gleichwertigen Gruppen rechts und links anordnete und zwar so, dass
deren äusserste Figuren in die Ecken des Vordergrundes kamen. Darin
lag nichts Neues, es ist dies nur der Anschluss an jene zuerst streng
symmetrische Anordnung, von der, wie dies ja gerade bei diesen Themen
sich auf das Bestimmteste verfolgen lässt, die Komposition überhaupt aus-
ging. Der grosse Fortschritt Bartolommeds aber und gerade hierin ist
wohl die Anregung Leonardds zu suchen- liegt darin, dass er durch die
freie Bewegung der einzelnen Figuren, sowie der Gruppen, das Ganze zu
beleben versucht, an Stelle des streng regelmässigen einen gesetzmässigen,
architektonischen Aufbau zu gewinnen versucht; dass er hierin, besonders
auch in der Stellung der Vordergrundsfiguren, grosse Fortschritte erreicht,
wird man gewiss zugeben müssen, ebenso wie die ausserordentliche Klar-
heit seiner Kompositionen; dass aber häufig durch das noch zu strenge
Vasari
Milanesi IV.
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