dächtnissbildern spielt vielmehr bei jeder künstlerischen Beur-
theilung eine überaus wichtige Rolle. Sie tritt am auffallendsten
an jener Reihe von Thatsachen zu Tage, als deren Typus die
Holzconstruction angeführt werden kann, die sich ein Rest
alter Zeiten an den Marmortempeln Griechenlands und nicht
weniger an den modernen Nachbildungen jenes Styles erhalten
hat. Alles, was Semper die "Symbolik" an einem Kunstwerkel)
nennt, gehört hieher. Wenn Jemand die Manier des Bronze-
gusses in einer Marmorstatue wiedergibt, oder die Formen der
Schmiedekunst in der Holzschnitzerei nachahmt, wenn er
Strassengitter in der Technik der Filigranarbeiten ausführt,
oder eine gemeisselte Fruchtschnur als an den Quaderstein
angeleimt darstellt, so hat er etwas Unschönes deshalb gemacht,
weil er auf unsere Erinnerungsbilder von den Eigenschaften
der Stoffe, in denen er arbeitete, nicht Rücksicht genommen hat.
Ein Balcon, dessen Consol zu schwach erscheint, ist unschön,
denn bei der unserer Erinnerung vorschwebenden Tragfähigkeit
des Steines ist derselbe in Gefahr, herabzustürzen. Dieselbe
Rolle spielen unsere Erinnerungsbilder überall da, wo die
Zweckmässigkeit oder Unzweckmässigkeit des künstlerisch behan-
delten Gegenstandes unser Urtheil über seinen Kunstwerth
beeinflusst, und das ist im ganzen Gebiete des Kunstgewerbes
und einem grossen Theile der hohen Kunst der Fall. Hiebei
ist eine psychologische Erscheinung für uns von Wichtigkeit.
Wenn uns der Architekt versichert, jener Balcon sei ganz sicher,
denn es seien Schienen im Consol versteckt, er habe auch
Tragproben angestellt u. s. w., so wird für uns dadurch der
Balcon nicht schöner. Unser altes Gedächtnissbild von der
Tragfähigkeit des Steines überwiegt alle unsere noch so Wohl
begründeten physikalischen Ueberzeugungen und Kenntnisse.
Wir werden noch weiter auf solche Erscheinungen stossen;
sie zeigen, dass für unsere künstlerischen Urtheile Gedächtniss-
bilder nicht nach der Festigkeit in's Gewicht fallen, mit der
wir von ihrer Correctheit und Zuverlässigkeit überzeugt sind,
sondern dass ihr Gewicht von ganz anderen Umständen
abhängt.
Gottfried
Semper:
Slyljv
„Der
Frankfurt
1860.