70 LEBENDE BILDER.
Stellungen der älteren Kunstentwickelung keineswegs nur
im formalen Unvermögen, sondern auch in einem bewußten
Streben ihren Grund hatten, das nur noch nicht dazu ge-
kommen war, die beiden Gegensätze auszugleichen. Daß
neben der idealen Kunst die realistische, ja man kann Wohl
sagen die naturalistische bestehen konnte, hat seinen Grund
im Wesen des Porträtes: das Porträt soll gerade dieses
einzelne Wesen wiedergeben, und mit je genauerer Be-
obachtung aller Zufälligkeiten derErscheinung dies geschieht,
um so größer scheint der Triumph der Kunst und des
Künstlers zu sein. Erst allmählich taucht die Erkenntnis
auf, daß das Porträt mehr geben kann als die zufällige,
augenblickliche, bis zum Verwechseln ähnliche Erscheinung,
daß vielmehr seine höchste Aufgabe die ist, das bleibende
Wesen des Menschen darzustellen und aus den mancherlei
augenblicklichen Äußerungen der Formen diejenigen wieder-
zugeben, welche einen Blick in den Charakter des Menschen
gestatten, so daß der Porträtist der schärfste Charakteristiker
ist und die zufälligen Formen nur das Substrat für die
Darstellung des seelischen und des geistigen Lebens sind. So
macht das Porträt den Weg von überraschender Naturwahrheit
zur idealen Auffassung von Seiten des Subjektes und kommt
so jener anderen Entwickelung der übrigen von der idealen
zur naturwahren Auffassung hinstrebenden Kunst entgegen.
Dies äußert sich in der Praxis, abgesehen von demi all-
gemeinen Gange, besonders darin, daß die Künstler all-
mählich immer mehr das Porträt in ihre Darstellungen
aufnehmen, von der Sonderdarstellung der Stifter heiliger
Bilder bis zur Aufnahme in den unmittelbaren Verkehr
mit den Heiligen und schließlich bis zur Verwendung des
Porträtes für die Charakterköpfe in der Darstellung selbst,
Wodurch die letztere, ihrem idealen Gehalte und Gepräge
zum Trotze, gerade den Vorzug der Naturwahrheit gewinnt
und sich so auf dem Wege zur endlichen Verschmelzung
der beiden Gegensätze befindet. Wenn nun ein großer
Maler zur Zeit der vollständigen Entwickelung des Porträtes
ein solches Werk schafft, so liegt dessen Wert außer in
der eigentlich malerischen Behandlung, wie sie gerade
diesem bestimmten Künstler eigen ist, besonders in jener