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BILDER.
LEBENDE
diesem Falle gestehen wir ihm das Recht zu, uns an Stelle
der Wirklichkeit den Schein zu setzen. Darin liegt das
Erhebende der Kunst, daß wir in ihren Schöpfungen eine
Gesetzlichkeit des Schaffens erkennen, welche ihrerseits
das naturgemäße Ergebniss des Bestrebens ist, das Zufällige
der Erscheinung in eine uns erkennbare und empfindbare
Notwendigkeit der Erscheinung umzuwandeln, wie sie uns
dem Naturwierke gegenüber wohl als Ahnung überkommt;
diese Ahnung aber wird keine Gewißheit, weil wir sie
nicht bis aufihre Quelle zurück verfolgen können. Die Einzel-
erscheinung, welche sie uns erweckt hat, tritt durch die
Fülle der Komplikationen, in welchen sie mit den sie
beeinHussenden und von ihr beeinfiußten Dingen um sie
her steht, alsbald aus der Einzelbetrachtting heraus, und
der Faden, den man bis ans Ende zu verfolgen gehofft
hatte, verliert sic11 in unergründliche Labyrinthe in der
Natur läßt sich eben auf die Dauer keine Einzelerscheinung
als Ganzes herausgreifen; die Natur ist selbst das Ganze,
das als solches zu erfassen wir verzweifeln müssen. Da
kommt die Kunst als Erlöserin, giebt der Einzelerscheintiiig
eine Selbständigkeit, die sie als in sich abgeschlossenes
Ganzes auftreten laßt, und wir empfinden die Lust, das
Walten eines uns verständlichen, in seiner Begrenzung
faßbtiren Gesetzes zu fühlen, welches das Widerspenstige
unter sich beugt und es mit sich fortreißt mitzuwirken
an der Schöpfung eines Wesens höherer Art, in Welchem
harmonische Ordnung waltet, jener Zustand der Befriedigung,
den wir in und außer uns suchen und in der Wirklichkeit
im besten Falle in einzelnen Augenblicken, nie aber auf die
Dauer finden. In der Kunstschöpfun g aber ist er zu einer Wirk-
lichkeit geworden, der zwar das natürliche Leben fehlt, die aber
dafür die Gewähr der Dauer des errungenen Zustandes durch
die Unwandelbarkeit seiner Erscheinung giebt (vgl. S. 34
Liegt so das Wesen der Kunstschöpfung im Gegensatze
zur Naturschöpfung in der leicht erkennbaren Gesetzmäßig-
keit, welche in der Vereinigung aller einzelnen Teile zu
einem Ganzen waltet, so ergeben sich die Folgen für die
Gestaltung der Kunstschvöpfung leicht. Das ihr zu Grunde
liegende Vorbild aus der Wirklichkeit muß alles dessen