LEBENDE BILDER. 6 3
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haben wohl die Empfindung, daß ohne dies störende
Element das Bild ein vollkommenes wäre, aber thatsiichlich
ist es nicht vorhanden. Hier tritt nun die Kunst in ihr
Recht. Bei ihren Schöpfungen ist die Zusammenschließung
der Einzelerscheintingen zu einem neuen Ganzen mit ein-
heitlicher Wirkung auf die Empfindung nicht Zufall, sondern
Absicht; sie wird daher alles Zufällige, was ihrer Absicht
widersprechen könnte, von vorneherein ausschließen und
sich nur auf die Verwendung solcher Einzelerscheinungen
beschränken, welche ihrer Absicht nicht nur dienen, sondern
sie direkt fördern. Sie kann dies aber, weil sie, dem ihr
eigentümlichen Wesen der Bildlichkeit (vgl. S. 29) ent-
sprechend, die Erscheinungen geben kann, ohne daß sie durch
alle die Beziehungen beeinflußt wäremwelche die Grundbedin-
gungen für deren natürliche Existenz sind. Wind und Wetter,
Nahrung und Wachstum, Alter und Tod, alles was der
Natur anhaftet und den Wert und die Bedeutsamkeit ihrer
Wirklichkeit ausmacht, fällt weg. So ist die Kunst in
Folge ihrer Bildlichkeit der Natur gegenüber schwächer:
sie giebt kein Leben, sondern nur den Schein des Lebens;
aber in dieser Schwäche liegt auch ihre Kraft, liegt der
neue Keim der ihr eigentümlichen Größe. Indem der
Künstler sein Geschöpf frei von all diesen Bedingungen
hinstellen kann, hat er die Möglichkeit, sich aus all den denk-
baren Arten und Gestaltungen seiner Erscheinung in der
Wirklichkeit diejenigen herauszugreifen, die seinem Zwecke
am besten dienen; er hat die Kraft, sein Geschöpf von all
den Zufälligkeiten zu befreien, welchen es in der Wirk-
lichkeit durch die tausendfachen Beziehungen und Einflüsse
ausgesetzt wäre, und welchen der wirkliche Gegenstand
inmitten der Natur sich nie entziehen kann. Diese Mög-
lichkeit sein Geschöpf so frei zu gestalten, legt ihm aber
auch die Pflicht auf, es zu thun und in der Neuschöpfung
nichts zu dulden, dessen Zusammenhang mit dem Ganzen
und dessen Notwendigkeit für das Ganze nicht klar zu
erkennen oder doch zu empfinden wäre. Denn nur dann
hört das Einzelne auf, den Eindruck des Zufälligen zu
machen, nur dann erreicht der Künstler die beabsichtigte
einheitliche Wirkung auf unsere Empfindung, und nur in