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der Linien des menschlichen Körpers von oben nach unten.
Als nun vor einiger Zeit bei Frauen und Kindern es Mode
war, die Knopfreihe der Taille quer über die Brust von
der einen Schulter zur andern Hüfte zu führen, so war dies
geschmacklos, weil nicht nur die gerade bei den Frauen
durch den Körperbau besonders deutlich hervorgehobene
Symmetrie verletzt wurde, sondern mehr noch, weil diese
schräge Linie in grellem XViderspruch zu den übrigen, von
oben nach unten gehenden Linien stand. Der Ulanenschnitt
ist dagegen geschmackvoll: denn einmal ist die Symmetrie
desKörpers gewahrt; dann aber vereinigen sich beide nicht
allzuschräg laufenden Linien, der jetzt durch den Zwang
des Korsettes freilich unnatürlich übertriebenen Haupt-
richtung des weiblichen Oberkörpers folgend, in der
gemeinsamen Tendenz nach der Mitte hin sich einander zu
nähern.
Ein anderes Gesetz des Geschmackes ist dies, daß die
Verzierung in diskreter Unterordnung bleibe und sich dem
Grundcharalater anschmiege, nicht aber die Hauptaufmerk-
samkeit in Anspruch nehme. So ist es gewiß geschmackvoll,
wenn etwas über dem unteren Saume des Frauenkleides,
um den Abschluß recht deutlich zu kennzeichnen, ein Band-
streifen gelegt wird, der rings um das Kleid läuft. Auch
zwei, drei Streifen mögen noch angehen. Werden es aber
mehr, steigen sie bis auf sieben und acht, einer über dem
anderen, sind sie vielleicht auch noch recht breit, so sind
sie geschmacklos, weil sie, statt bescheiden den Abschluß
anzudeuten, vordringlich auf Selbständigkeit der Erscheinung
Anspruch erheben.
So giebt es eine Reihe von Gesetzen, welche
nicht nur von dem Individuum abhängen, sondern welche
aus einem durch die Sache selbst begründeten Geschmacke
entspringen. Da sollte man glauben, daß in einer
kultivierten und geistvollen Gesellschaft doch mindestens
diese Gesetze als unabänderliche anerkannt wären und that-
sächlich befolgt würden. Das Anerkennen ist wohl da
oder kann doch durch einige Ueberlegting erreicht werden:
aber mit dem Befolgen hat es seine eigene Bewandtnis.
Daß es diese hat, hängt von einer weiteren Eigen-