276 CORNELIUS UND DAS WELTGERICHT.
entwickelung an einem bestimmten Beispiele den ent-
scheidenden Augenblick, in Welchem die zum Dienste des
Kultus berufene Kunst von dieser bisher selbstverständlichen
Gewöhnung sich gewaltsam losreißt, um dem Genius des
Individuums zu folgen, der sie zum Ausdruck der eigensten
persönlichen Stimmung macht, indem er ihr mit neuem
Gehalte zugleich eine Formensprache aufprägt, welche im
Kultus unerhört war und zu ihm nicht passen konnte.
Da bedarf es nur noch eines Schrittes, und der Kultus wird
überhaupt nicht mehr so ernst genommen, daß man es für
nötig hält, ihm Opposition zu machen. Die Möglichkeit,
in ihm Motiv und Gelegenheit für Schöpfungen zu finden,
welche dem ästhetischen Bedürfnisse genügen sollen und in
erster Linie künstlerischen Gesichtspunkten sich fügen, wird
um so lieber benutzt, als er die fast einzige Möglichkeit bot,
Werke zu schaffen, die in Konzeption und Dimension groß-
artig blieben: die ganz vom Kultus sich lösende Malerei
fügte sich mehr und mehr in geistiger und rein äußerlicher
Beziehung dem Orte, welcher der Schauplatz ihrer neuen,
ungebundenen Thätigkeit wurde, dem Salon, dem Kabinet,
dem Boudoir.
Auf dem Entwickelungswege des Weltgerichtes ist es
Rubens, welcher diese Epoche der ästhetischen Kultusdar-
stellung am vollkommensten repräsentiert. Rubens nimmt
das Motiv des Aufstürmens der Verdammten als Gegen-
bild zum Aufsteigen der Erlösten als dankbarstes und seiner
Tendenz entsprechendstes von Michelangelo an, verwendet
aber beides in seinem Sinne, sodaß er dabei wesentlich an
unser ästhetisches Empfinden appelliert. Demgemäß sind
es besonders die nackten Frauenkörper, auf welche er unser
Auge zieht und die er mit einem wahren Lichtstrom über-
gießt, während die Männer sich mit dem Schatten begnügen
müssen. Und wenn er ein blühendschönes Weib von einem
Teufel zur Hölle fortschleppen, ein anderes von ihm am
Haare fortzerren läßt, so ruft er damit noch eine andere
Empfindung wach, außer dem rein menschlichen Mitleiden
mit solchem Geschicke auch das schmerzhafte Gefühl, daß
die Schönheit so zerstört werden muß, die Schönheit, die
zu ganz anderem Thun berechtigt gewesen wäre. Ein