272 CORNELIUS um) DAS WELTGERICHT.
der Überraschung, weil dieser Richterspruch mit seiner
Verdammnis gegen die Erwartung, gegen die Bestrebungen
und Bemühungen der Heiligen, der Märtyrer und vor
allem der Mutter Gottes ausfällt? Und sollte das Ent-
gegenhalten der Marterzeichen nicht vielmehr die Be-
deutung haben: S0 haben wir gelitten, und das soll nun
umsonst sein? Wozu der durch unser Handeln und Leiden
errungene Überschuß an guten Werken, der den Sündern
zu Gute kommen sollte? In stürmischer Eile werden
Christi Marterwerkzeuge selbst herbeigeschleppt sollen
sie nicht noch im letzten Augenblicke den Richter mahnen,
daß er ja selbst den Versöhnungstod erlitten hat und zwar
nicht um der Gerechten, sondern um der Sünder willen,
womit diese Verdammung so gar nicht übereinstimmt? Maria
kann das Schreckliche nicht sehen sie wendet sich ab und
verhüllt sich; am unerwartetsten und härtesten ist das erste
Paar betroffen, durch dessen Schuld die Sünde in die Welt
gekommen ist und das jetzt die nWohlthat Christigt den Ver-
söhnungstod, durch welchen alle Schuld gesühnt sein sollte,
aufgehoben und zunichte gemacht sieht. Diesen Sachverhalt
erklärt nur eine andere Aulfatssting. Michelangelo konnte
sich dem Auftrage das Weltgericht zu malen nicht entziehen:
da malte er es so, daß der unerbittliche Richter mit seiner
Verdammung im Widerspruch mit all den Zeugen der Milde
und Barmherzigkeitja mit dem eigenenVersöhnungstode steht.
Wie Michelangelo mit sich gekämpft hat um dem
Auftrag im Sinne der Kirche gerecht zu werden, zeigt die
Stelle in einem Briefe an Vittoria Colonna, wo er seine
Überzeugung und die kirchliche Ansicht dadurch in Ein-
klang zu bringen sucht, daß er auf die doppelte Ankunft
Christi hinweist. nVOn einer doppelten Ankunft Christi lesen
wir in den heiligen Schriften. Das erste Mal ist er voll süßer
Milde und zeigt nur seine große Güte und Barmherzigkeit. Das
zweite Mal aber kommt er gewappnet und offenbart seine Ge-
rechtigkeit, seine Majestät und Allmacht. Dann wird es keine
Zeit geben für Barmherzigkeit und keinen Platz für Gnaden
(vgl. Springer, a. a. O. II. S. 270). Thatsächlich treten in
den heiligen Schriften zwei einander widersprechende An-
schauungen hervor: die eine predigt von einer ewigen Ver-