270 CORNELIUS UND DAS WELTGERICHT.
wie ihn Schnaase treffend bezeichnet (VIII, S. 258), wie
auf dem Danziger Bilde, sich erhielt, während die dichte-
rische Schöpferkraft des Künstlers inbezug auf die Motive
sowohl wie die Darstellung selbst sich in den Nebenf-iguren
frei bewegt und ebensowohl tief Ergreifendes wie durch
seine Schönheit Überraschendes hervorbrachte.
Ganz anders wurde es in der Renaissancezeit, als das
Individuum mit seiner überwältigenden Kraft und seiner
Fülle naiven Selbstbewußtseins sich vordrängte und gegen
die Überlieferung auftrat, als zugleich durch den humani-
sierenden Einfluß der antiken Weltanschauung die Schärfe
der mittelalterlichen Auffassung von der Unerbittlichkeit des
Weltrichters eine erhebliche Abschwächung erhielt und in
den gebildeteren Kreisen eine Auflehnung gegen die Ver-
dammungssucht und die trotz des Erlösungstodes drohend
vorgehaltene ewige Verderbnis entstand. Wir wissen, daß
die Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben und
die dadurch ermöglichte Erlösung auch in Italien lebhaft
ergriffen wurde, und daß gerade der Kreis, in welchem
sich der große Meister individuellster Auffassung bewegte,
von solchen Gedanken erfüllt war. (Springer, Raffael und
Michelangelo, II, S. 303.) Und gerade ihm wurde der Auf-
trag zuteil, ein Weltgericht zu schaffen. Michelangelo
sträubte sich lange dagegen. Die vorgeschützte Abwendung
von der Malerei mag wohl nur ein Vorwand gewesen sein
der Gegenstand selbst konnte ihm nicht zusagen: er
sollte die Verurteilung zu ewiger Verdammung malen, an
die er selbst kaum glauben mochte. Und als er sich der
Ausführung nicht entziehen konnte, so gestaltete er das
Weltgericht so eigenartig, so sehr nach der nur ihm, nicht
der Kirche eigentümlichen Auflassung, daß der Widerspruch
der kirchlichen Partei kein Wunder ist. Die Nacktheit der
Gestalten traf sicherlich nicht den Kernpunkt des Wider-
spruches: hat doch selbst der fromme Fiesole die Auf-
erstehenden, Männer sowohl wie Frauen, in voller Nacktheit
gemalt, ebenso wie die anderen Meister diesseits und jenseits
der Alpen, allen voran Signorelli in der Marienkapelle im Dome
zu Orvieto, und weder in Italien noch in Deutschland hatte
man Anstoß an solcher Darstellung genommen; die Maler