246 DIE VENUS vox MILO.
greift, ohne es schon zu berühren, wendet sich die Göttin
in ihr hoheitsvoll und abwehrend dem Frevler entgegen.
Dieser Hinweis mag dazu dienen, den Beweis zu erbringen,
daß allerdings die hier aufgestellte Auffassung nicht nur
eine innerlich berechtigte ist, sondern daß die hoheitsvolle
Zurückweisung eines Mannes von Seiten eines durch seine
Gegenwart sich in ihrer Reinheit verletzt fühlenden Weibes
eine der Antike vertraute Vorstellung ist, und daß die Ab-
wehr eines solchen Angriffes, nicht nur in den Sphären
der Satyrn und Nymphen, sondern auch bei den höchsten
Gottheiten vorkommtf Ob nun die melische Statue that-
sächlich nicht nur überhaupt einen solchen Augenblick,
sondern dieses ganz bestimmte Ereignis darstellen, 0b sie
also wirklich die von Aktäon erblickte und ihn mit gött-
licher Hoheit zurückweisende und bestrafende Artemis sein
soll, 0b auf dem dorischen Melos an die gerade den
Dorern besonders heilige Artemis gedacht werden kann,
ist eine andere Frage, deren Bejahung hier in keiner Weise
behauptet wird es kann dieselbe Lage ebensowohl
für die Venus wie für jede andere Göttin, ja für jedes
Weib als möglich vorausgesetzt werden hier kommt
es vielmehr nur auf den Nachweis eines antiken Motives
an, welches imstande ist, die hier gegebene Auffassung
nicht nur als eine durch die Untersuchung des Kunst-
werkes selbst berechtigte, sondern auch als eine nach
mythologischer Analogie mögliche erscheinen zu lassen.
Daß aber diese Auffassung auch praktisch durchführbar
ist, mag der beigegebene der neuesten photographischen
Aufnahme des Originales gegenübergestellte Lichtdruck
nachweisen. Er zeigt die Ergänzung, wie sie sich nach
dieser Annahme ergiebt: von der Hand eines trefliichen
Bildhauers ist sie an der Pariser Maschinenverkleinerung
thatsächlich ausgeführt worden. Die davon genommene
Photographie giebt der Lichtdruck wieder. (Näheres im
Anhang.) Die abwehrend erhobene linke Hand entspricht
der Bewegung des Kopfes und dem Ausdrucke des Ge-
' Näher nachgewiesen in Kap.
nNCuCS über die Venus von Milou
VII und VIII meiner Abhandlung:
(S- 41-47)-