244 DIE VENUS von MILO.
lebt wird, so daß er in der ihm eigentümlichen Sprache
denselben Inhalt redet wie der Körper. Im Gegensatze
dazu taucht aber der wundervolle Oberkörper in um so
strahlenderer Schönheit empor, der Teil des weiblichen
Körpers, in welchem die Formenweichheit sich noch am
ersten mit energischer Bewegung paaren kann ohne den
Charakter der Weiblichkeit einzubüßen. Nur wenig von
dem nach dem Gewande greifenden rechten Arme verdeckt,
baut sich der schöne Leib auf; ja, gerade diese geringe
Verdeckung reizt die Phantasie unablässig zur Vervollstän-
digung des nicht sichtbaren Teiles. Noch meisterhafter
aber ist das Grundmotiv dazu benutzt, der Bewegung einen
Rhythmus zu verleihen, der in der Verfolgung seiner Linien
dem Auge immer neue Reize bietet und gerade dadurch
die dem Kunstwerk am schwersten zu erreichende Aufgabe
löst, der erneuten Betrachtung immer neue Schönheiten zu
enthüllen. Den vollendetsten Anblick gewährt wohl die
Stellung vor der Statue etwas nach ihrer linken Seite
hin. Da wechselt das fest auftretende rechte Bein mit
dem stark ausladenden linken und seiner in Ober- und
Unterschenkel gebrochenen Linie, beide Beine verbunden
durch den großen Zug tiefschattender Falten und breiter
Flächen. Da wechselt die stark ausladende rechte Hüfte
und die sich tief senkende rechte Schulter mit der
eingezogenen linken Hüfte und der hoch erhobenen
linken Schulter. Da locken die entgegengesetzten Bewe-
gungen von rechts nach links, von hinten nach vorn,
immer aufs neue die ursprüngliche Lage sich auszudenken
und die Bewegung von ihr aus bis zu diesem Augen-
blicke, und von diesem dann weiter fortzubilden, und über
dieser reizvollen Komplikation thront in erhabener Ruhe
der schöne, nur wenig nach der Seite gewendete Kopf,
die fest auf einen bestimmten Punkt, mit etwas gesenkten
Lidern energisch blickenden Augen, der wie zu einem
ersten Laute, zum Anfang eines Wortes leise geöffnete
Mund, die hoheitsvolle Stirn. Und alle diese Bewegungen
und die sie beherrschende Ruhe sind nur der gemeinsame
Ausiiuß eines Gefühles, einer Empfindung, welche, von
außen veranlaßt, die Seele des edlen Weibes mächtig auf-