Volltext: Über Kunst, Künstler und Kunstwerke

DIE VENUS VON MILO. 243 
äußere Änderung, welche freilich eine schwere innere 
Schädigung zur Folge hatte: der ganze Zusammenhang 
des Kunstwerkes war zerstört. 
Dieser einheitliche Zusammenhang, dieser alles durch- 
dringende, jedes Glied und jede Bewegung belebende 
schöpferische Hauch ist es nun aber, der im Vereine mit 
der Art, wie alle äußeren Forderungen eines Kunstwerkes 
berücksichtigt sind, dieses Werk so unbeschreiblich groß 
macht. Denn in der That war die Aufgabe keine leichte. 
Als der Künstler schuf, um die Wende des fünften jahr- 
hunderts  v. Goeler macht Gründe für das Jahrzehnt 
415-405 geltend (vgl. mein vNeues über die V. v. M.t( 5.49) 
 mußte noch mit der strengeren Gewohnheit der älteren 
Zeit gerechnet werden, welche der Enthüllung des weib- 
lichen Körpers nur schrittweise nachgab. S0 wählte der 
Künstler ein Motiv, welches ihn ebensosehr zur Enthüllung 
des Oberkörpers wie zur Verhüllung des Unterkörpers 
berechtigte. Damit erreichte er technisch zunächst die 
Vergrößerung der Masse des Unterkörpers durch das Ge- 
wand, wodurch die von Anfang an in Marmor gedachte 
Statue einen festen, unabhängigen Stand erhält. Er vermied 
aber zugleich den Anblick des weiblichen Unterkörpers: 
dieser bietet seinem eigentümlichen anatomischen Bau ent- 
sprechend, durch die naturgemäße Zusammenschließung der 
Oberschenkel und der sich nach außen öffnenden Unter- 
schenkel nicht nur an sich einen wenig gefälligen Anblick, 
welcher, wenn an jener Zusammenschließung der Ober- 
schenkel nicht festgehalten wird, ein geradezu widerwät- 
tiger wird, sondern er macht zugleich den unabweislichen 
Eindruck der Schwäche und der Hilflosigkeit. Das aber hätte 
gerade bei der hier gewählten Behandlung des Motives am 
allerwenigsten gepaßt. Der Künstler gewann jedoch zu- 
gleich andere bedeutende Vorteile. Das Gewand wird ein 
wichtiges Mittel, seine Absicht zu klarem Ausdrucke zu 
bringen, und giebt, ohne die kräftig markierten Formen 
des Körpers zu verbergen, reiche Gelegenheit für neue, 
schöne Formbildung, die um so reizender wird, je mehr 
der tote Stoff des Gewandes in Mitleidenschaft gezogen 
und von der den Körper durchwebenden Empfitädung be- 
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