DIE VENUS VON MILO. 241
bruch zu verschiedenen Zeiten sehr wohl ganz gleichartiger
Marmor findet wie könnte man sonst noch mit Sicher-
heit einen bestimmten Marmor auf eine bestimmte Fund-
stätte zurückführen? Und auch dasselbe Korn läßt sich
finden: mußte es doch auch der Originalkünstler finden,
da er ja sein Werk nicht aus einem Stücke schuf! Der
zweite Grund beweist nichts, weil jeder nur einigermaßen
tüchtige Bildhauer imstande ist, die richtigen Verhältnisse
ebenso sicher herzustellen, wie sie ein Gelehrter wahr-
nehmen kann. Auch ein dritter Grund, die Gleichartigkeit
der Arbeit, der Meißelführung, scheint bei der mangel-
haften Erhaltung des Oberarmfragmentes nicht unbedingt
stichhaltig: für die Hand wird aber eine geringere Arbeit
zugegebenf Es bleiben somit als entscheidend nur die inneren
Gründe übrig, die Beantwortung der Frage: Stimmt das
durch den Apfel angedeutete Motiv zu der Haltung des
Körpers und zu dem seelischen Ausdruck? Das ist ent-
schieden nicht der Fall. Die Apfelhaltung ist typisch, die
Körperbewegung ist dramatisch; die symbolische Haltung
des Apfels hat mit dem hoheitsvollen Charakter des Aus-
drucks nichts zu schaffen, den die Statue thatsächlich hat; das
ruhige Hinhalten des Apfels steht in schroffem Gegensatze
zu der Haltung des sich zurückbeugenden Körpers. Da bleibt
nichts übrig, als sich für eine von zwei Möglichkeiten zu ent-
scheiden. Entweder das Motiv mit dem Apfel rührt von
dem Originalkünstler her: dann ist zuzugestehen, daß ein
innerer Widerspruch zwischen Hauptmotiv und Körperhal-
tung besteht, daß somit der Künstler einen Kardinalfehler
begangen hat, der ihn nicht auf der Höhe erscheinen läßt,
"die man ihm nach der sonst hervortretenden Beschaffen-
heit seiner Arbeit einräumen muß; dann mag man auch, um
diesen Widerspruch zu erklären, auf die gewundene Körper-
haltung gotischer Skulpturen hinweisen der Künstler
gehörte dann freilich in eine Zeit, in der man sich
so unnatürlicher Mittel bedienen mußte, um den Körper
L
' Die Fragmente sind abgebildet bei Goeler von Ravensburg a. a. O.
und grösser sowie technisch vollkommener bei Hasse, Die Venus von
Milo. Jena. G. Fischer. 1882.
VEXT VALENTIK. I6