Volltext: Über Kunst, Künstler und Kunstwerke

236 D112 VENUS von MILO. 
muß : ein halbentblößtes Weib sieht sich dem unerwünschten, 
überraschenden Anblick eines Mannes ausgesetzt. Wer 
hierin von vornherein ein sinnliches oder gar ein unsitt- 
liches Motiv sehen wollte, würde durch dieses Urteil nur 
zeigen, daß ihm eine für die Kunstbeurteilung außerordent- 
lich wichtige Erkenntnis fehlt: das Sinnliche und das Unsitt- 
liche liegt nicht sowohl im Motiv, als vielmehr in der Behand- 
lungsweise von Seiten des Künstlers und in der Betrach- 
tungs- und Auffassungsweise von Seiten des Beschauers. 
S0 ist denn auch die Verwertung der Geschlechtsbeziehungen 
zwischen Mann und Weib noch keineswegs an sich un- 
sittlich oder auch nur notwendigerweise sinnlich. Bei dem 
sich freier in der Welt bewegenden Manne stehen dem 
Künstler eine Fülle von Beziehungen zur äußeren Welt 
zu Gebote, um seine Seele in Bewegung zu setzen: bei 
dem Weibe dagegen, für welches sich die Welt im Manne 
konzentriert und dessen Thun und Empfinden obendrein 
weit mehr als beim Manne unter dem Banne des Ge- 
schlechtes steht, so daß es leicht alles unter dem Ge- 
sichtspunkte des Weibes, nicht überhaupt des Menschen 
zu sich in Beziehung setzt, wird gerade das nach dieser 
Richtung hin erregte Seelenleben dem Künstler die reichste 
Gelegenheit geben, die energischesten und leidenschaft- 
lichsten Empfindungen lebendig werden zu lassen und 
ergreifend zu gestalten. je reiner und höher aber ein 
WVeib empfindet, desto schmerzlicher wird jede unwill- 
kommene feindliche Berührung ihrer Weiblichkeit sie auf- 
schrecken, auch wenn diese Berührung noch weit davon 
entfernt ist, eine körperliche zu sein: auch ein Blick vermag 
schon zu kränken und die Empfindung der Verletzung wach- 
zurufen. Dann wird sie sich zwar in erster Linie körperlich 
zu decken und zu schützen suchen: zugleich aber wird der 
echte Stolz in ihr aufflammen, die ganze Hoheit ihres 
Wesens wird sich offenbaren, und die achtunggebietende 
Ruhe des Bewußtseins ihrer Reinheit wird ihr einen 
sichreren Schutz gewähren, als es die schwachen Hände 
vermochten. Und so wird über der energischen, dem ersten 
Eindruck gemäß zurückweichenden Bewegung des Körpers 
die erhabene Ruhe der siegesgewissen Seele in dem stolz
	        
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