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D112 VENUS von MILO.
der Unterkörper zeigt das Bestreben, von links nach rechts
zu weichen. Die Last des ganzen Körpers ruht auf dem
rechten Beine. Aber die Hauptlinie des Standbeines ist
keine senkrechte; sie geht vielmehr in starkem Bogen über
den Fuß hinaus nach rechts (Taf. I, Fig. I), zugleich in
entschiedenem Widerspruch mit der durch den anato-
mischen Bau des Weibes indizierten Linie des rechten
Unterschenkels nach links hin. Das linke Bein stützt sich
auf den erhobenen Fuß und drängt das Knie möglichst
weit nach vorn (Taf. I, 2; II, 4) und nach rechts (Taf. I, r).
Nimmt man noch dazu die bei der Vorderansicht sich er-
gebende steile Profillinie auf der linken Seite des Ober-
körpers im kräftigen Gegensatz zu der gebogenen der rechten
Seite und im Zusammenhange damit die hoch erhobene
linke Schulter im Gegensatze zu der gesenkten, nach rechts
und vorn gebeugten rechten Schulter (Taf. I, 2; II, 3), so er-
giebt sich, daß die Bewegung eine komplizierte und eine
energische ist, derart, daß das Zusammentreffen solcher
Gegensätze nur denkbar ist in einem Augenblicke, welcher
als Übergang aus einer Lage in die andere aufzufassen ist,
nicht aber als ein augenblicklichen" Zustand, in Welchem
der Körper verharren könnte: somit ist die Darstellungs-
weise die dramatische, nicht die typische. Da nun die
Darstellungsweise sich als Folge aus dem Hauptmotiv er-
giebt, so muß dieses selbst dramatischer Natur sein, d. h.
der eigentliche Gegenstand der Darstellung ist ein einzelner,
in seinem raschen Vorübereilen vom Künstler erfaßter und
festgehaltener Augenblick aus einer Handlung, aus welchem
wir uns Ursache und Folge zu ergänzen haben, um so
den Verlauf der ganzen Handlung durch Übersetzung aus
der an den Augenblick gefesselten Bildkunst in die sich in
der Zeit bewegende Vorstellungsthätigkeit aufzubauen.
Aus diesem Ergebnis folgt mit Notwendigkeit, daß
alle diejenigen Attffassungsweisen und Ergänzungsversuche
unrichtig sind, welche auf der Voraussetzung der typischen
Darstellungsweise beruhen: sie treten mit dem aus der
Art der Bewegung des Körpers mit Sicherheit folgenden
Charakter des dramatischen Grundmotives in unlöslichen
Widerspruch. Dahin gehören die Ergänzungsversuche,