DIE VENUS von Muo. 229)
die dramatische, im Gegensatze zu jener ersteren, welche
in der geschichtlichen Entwickelung der Kunst vorangeht,
der typischen.
Handelt es sich nun um die Beurteilung eines Werkes
der Bildkunst, so wird man sich somit zuerst über den
Charakter des Hauptmotives und der ihm entspringenden
Art der Darstellungsweise klar werden müssen. Ist infolge
unvollständiger Erhaltung die Entscheidung nicht sofort klar,
so wird man aus der Art der Bewegung, aus dem Verhält-
nisse der Körperteile zu einander, aus dem daraus ent-
springenden Gesamtcharakter der Bewegung den Schluß
auf den Charakter des Hauptmotives ziehen müssen, eine
Schlußfolgertmg, die berechtigt ist, weil sich aus dem
Wesen des Kunstwerks ergiebt, daß die Darstellungweise
in notwendigem ursächlichem Zusammenhange mit dem
Charakter des Hauptmotives steht, also diesem nicht wider-
sprechen kann.
Wenden wir diese Methode der Untersuchung auf die
melische Statue an, so ergiebt sich Folgendesf Der Ober-
körper zeigt eine doppelte Bewegung: von links nach rechts
(diese Bezeichnungen werden im Sinne der Statue, nicht
des Beschauers gebraucht) und von hinten nach vorn.
Beide Bewegungen sind sehr stark, die erstere z. B. in
dem Grade, daß eine auf der Basis errichtete und durch
den Nabel geführte Senkrechte an der linken Seite des
Kopfes vorbeigeht, ohne diesen zu berühren (Taf. I, Fig. I).
Nicht minder deutlich tritt sie an der gekrümmten Linie
des Rückgrates hervor (Taf. II, Fig. 3). Die Biegung
nach vorn zeigt sich besonders deutlich in der Prolilansicht
(Taf. I, Fig.2;II, 4). Hier fällt auch die eigentümliche Haltung
des Kopfes besonders stark auf : während der Hals schräg
nach vorn gebeugt ist, bleibt der Kopf dennoch wagerecht,
was nur durch ein starkes Heben des Kopfes im Gegensatz
zu dem vorgebeugten Halse möglich ist eine für den
Gesamteindruck der Statue entscheidende Bewegung. Auch
I Eine genaue anatomische Analyse giebt meine Abhandlung nDie
hohe Frau von Miloa (Berlin, G. Reimer, 1872) S. 10-15 mit den da-
Zu gehörigen geometrischen Zeichnungen Tafel l, II und III.