226 Du; Venus von MILO.
Gestalt beachten, sie mit in seinen Zweck hineinziehen, sie
sich dienstbar machen, so daß sie ausdrucksvolle Träger
des Hauptmotives werden und dies deutlich verkünden.
Etwas Zufälliges giebt es da nicht mehr: alles ist aus
einem Guß, alles ist geworden, gewachsen, es kann nur
so und nicht anders sein. Für diese Wirkung bleibt es
sich ganz gleich, 0b der Künstler sich dabei der Gründe
bewußt geworden ist, oder ob es, wie es wohl richtiger
ist, nur die Weiterwirkung seiner so glücklich organisierten
Natur ist, daß, wenn die Neuschöpfung aus ihm hinaus-
wächst, dies nach denselben Gesetzen geschieht, welche in
ihm leben: das Kunstwerk ist nur eine Weiterbildung der
den Organismus des körperlichen, geistigen und seelischen
Daseins gestaltenden Naturkraft, welche schließlich über
das Individuum hinaus den toten Stoff in ihr Bereich
zieht und ihrem gestaltenden Wirken unterwirft.
Tritt man nun an die Beurteilung eines einzelnen Werkes
heran, so ist die erste Frage: Ist sein Schöpfer als ein
mit Naturnotwendigkeit schaffender Künstler zu betrachten,
oder macht er den Eindruck, daß er auch nkünstlerischea
Nebenrücksichten habe gelten lassen können, welche mit dem
Hauptmotive, das er sich als das belebende Element gewählt
hat, nichts Wesentliches zu thun haben? Gilt das letztere,
so wird eine wissenschaftliche Durchdringung des Werkes
kaum möglich sein, da sich keine Grenze wird angeben
lassen, wo die Willkür des Künstlers anfängt, wo die innere
Notwendigkeit seiner Schöpfung endet. Ganz anders wird
es bei dem wahrhaft großen Künstler sein: sein Werk ist
von der inneren Notwendigkeit durchwoben, und jedes
tiefere Eindringen wird nur ein schärferes Erkennen der
Folgerichtigkeit im Zusammenhang aller Teile, in ihrer
Zusammenschließung zum Ganzen und zu dessen Gesamt-
wirkung sein. Ein solches Erkennen ist die Aufgabe der
ästhetischen Betrachtung.
Unterwerfen wir einer solchen" die melische Statue
und suchen zunächst jene erste Frage zu beantworten, so
liißt die über alles erhabene Treliiichkeit des Werkes nur
eine Antwort zu. Wer sie nicht für das Werk eines
wahrhaft großen Künstlers halt, wer bei der Beurteilung