Du: VENUS von MILO. 225
gerufen sich verkörpert und die Gestalt bis ins Feinste
mit alles beherrschendem Geiste durchdringt, so daß wir
nicht nur fühlen, sondern erkennen, so habe es werden
und wachsen müssen, wie ein Naturwerk unter eben solchen
Bedingungen mit Notwendigkeit gewachsen wäre: so er-
weitert sich nicht nur die Kenntnis des Kunstwerkes selbst,
so daß sie eigentlich erst eine vollständige wird, es ist
vielmehr auch der einzige Weg, dem großen unbekannten
Menschen, der solches geschaffen, näher zu kommen und ihn
genauer kennen zu lernen, als wir es durch Überlieferung von
Namen und Schule hätten erreichen können. Dieser Mensch
aber muß ein großer Künstler gewesen sein, und wollen wir
sein Werk beurteilen, so dürfen wir für seine Entstehung
nur solche Beweggründe gelten lassen, die eines großen
Künstlers würdig sind.
jeder Künstler wird, wenn er schafft, von mancherlei
Gründen bewegt, das, was er schafft, gerade so und nicht
anders zu machen. Häufiger vielleicht noch, als man denkt,
wird er äußere Gründe walten lassen, Rücksichten nicht
nur auf das Material, auf den Ort der Aufstellung, sondern
auch auf hundert Zufälligkeiten, welche die äußere An-
ordnung betreffen: er wird die eine Stellung der anderen
vorziehen, weil sie besser aussieht, er wird ein Motiv im
Gewande bevorzugen, weil es sich gut macht, er wird
einem Arme, einem Beine eben diese Stellung geben, nicht
weil er sich etwas dabei denkt, sondern weil es poetischer
oder geistvoller oder sonst irgend etwas erscheint. Solche
Rücksichten pHegt man vkünstlerischea zu nennen nun-
künstlerischerr wäre jedoch der richtigere Namen. Bei dem
echten Künstler, dem wahrhaft großen, entstehen die Ge-
stalten anders. Ein Hauptmotiv ist es, welches den Keim-
punkt bildet, aus welchem mit Notwendigkeit die Gestalt
erwächst. Gleich dem belebenden Safte durchrinnt es alle
Glieder und macht sie zum Dienste des Hauptmotives leben-
dig, so daß dieses in jeder Bewegung, in jeder Linie sich
ausspricht, und dadurch daß es überall durchleuchtet, als
das gestaltende Prinzip, als der eigentliche Gegenstand der
Darstellung zur Empfindung kommt. jene Nebenrücksichten
wird der große Künstler beim Hervorwachsenlassen der
Vl-Lrr VALENTIN. I;