DIE
VENUS
VON
MILO.
äjKIY-"Äfeg as große Kunstwerk hat das Vorrecht, der Be-
trachtung immer neue Seiten, der Freude am
Schönen immer erhöhten Genuß darzubieten.
Dieser Vorzug soll ihm nicht geschmälert werden; dennoch
hat die Wissenschaft die Pflicht, der oft nur allzuregen
Phantasie Zügel anzulegen und dem Kunstwerke nicht
bloß seine feste Stellung in der Geschichte anzuweisen,
sondern auch seinen Gehalt möglichst scharf zu bestimmen
und der Willkür überquellender Empfindung zu entziehen.
Dabei geht sie von der Erfahrung aus, daß das Große
weder plötzlich und unvorbereitet in die Welt tritt, noch
ohne Nachwirkung dahinzugehen pflegt. Sie sucht daher
sorgfältig alle Spuren auf, welche zu dem großen Werke
hinzuführen scheinen, und verfolgt mit Spiihersinn die
Wellenkreise, die es hinter sich zurückgelassen haben mag.
Leider machen ihr nicht alle großen Werke diese Arbeit
leicht. Da taucht wohl eines auf, an einem Punkte der
antiken Welt, der nur schwer mit der Bedeutung des
Kunstwerkes zu vereinigen ist, ungerühmt, ja ungenantit
in der uns erhaltenen Litteratur, ohne sicher nachzuweisende
Verbindung mit der ihm vorhergehenden Zeit, und wirkungs-
los, soweit wir wissen, in der Nachwelt. Trotz aller Be-
mühung will es der Wissenschaft, die nichts Einzelnes
duldet, nicht recht gelingen, die Anknüpfungspunlate zu
finden; es bleibt vereinzelt stehen, unenträtselt, ungelöst.
So ragt uns in einsamer Größe jenes weltberühmte Meister-