Volltext: Über Kunst, Künstler und Kunstwerke

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TRAGIK 
1x WERKEN HELLENISCHER PLASTIK. 
 
Durch diese von allen Seiten herbeiströmende Bewegung 
wird der Blick immer wieder auf die Mutter gelenkt, welche 
das körperliche Leiden der Kinder hundertfach in sich 
nacherlebt. Und um den Schmerz ganz aufdas Gebiet der 
Seele zu lenken, vermeidet es der Künstler, uns körperliche 
XVunden zu zeigen: die unsichtbaren Pfeile treffen unsicht- 
bar, und nur ihre Wirkung offenbart sich schrecklich. Die 
hohe, ungebrochene Gestalt in der Mitte läßt uns aber 
nachempfinden, wie in ihr die individuelle Berechtigung 
einer Leto gegenüber in einseitiger Kraft sich entwickeln 
konnte; doch so gerne wir ihr dies zugestehen, dieses indi- 
viduelle Recht hätte nur bestehen können unter Aufhebung 
der allgemeingiltigen göttlichen Weltordnung, wie sie durch 
Apollon und Artemis, durch den Willen des Zeus repräsen- 
tiert wird: vor ihr muß das Individuum mit seinem sub- 
jektiven Rechte in den Staub sinken. 
Diese Fülle der tragischen Gewalt, der dichterischen 
Größe kann sich nicht lange erhalten, und es will scheinen, 
als ob sie mit solcher Macht in Werken der hellenischen 
Plastik nicht zum zweiten Male aufgetreten wäre. Zum 
Teile mag dies mit dem Wesen der Bildkunst überhaupt 
zusammenhängen. Da die tragische Empfindung nur in- 
folge einer zeitlichen Entwickelung entstehen kann, welche 
uns die verschiedenen Elemente in ihrer Bedeutung und Be- 
rechtigung kennen lehrt, die Bildkunst aber es nur mit einem 
einzigen Augenblicke zu thun hat, der eine zeitliche Entwicke- 
lung nur andeuten, nie selbst wiedergeben, noch weniger 
aber die Berechtigung der einzelnen Elemente darlegen kann, 
so wäre strenge genommen die Bildkunst von der Tragik 
ausgeschlossen, wenn sie nicht an allgemein menschliche 
Verhältnisse und an bestimmte, als wohlbekannt vorauszu- 
setzende Ereignisse anzuknüpfen vermöchte. Immerhin 
wird durch solche Voraussetzungen das Feld der Wirksam- 
keit enge beschränkt, und zwar für die Plastik noch mehr 
als für die Malerei, da in jener durch das schwierigere Material, 
durch das entschiedenere Ablösen von Ortlichkeit und 
Umgebung die Andeutung der Handlung sehr erschwert 
ist. Will sie aber dennoch wirken, so werden gerade in 
ihr die Mittel um so kräftigere, um so mehr durch ihre
	        
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