120 DIE TRAGIK m VVERKEN HELLENISCHER PLASTIK.
aufs neue gezwungen, die nächsten Augenblicke weiter-
zudichten. So bleibt in der That nur das Gräßliche übrig,
nach der einen Seite hin dadurch gemildert, daß es nur
im letzten Augenblicke der Vorbereitung, aber freilich
mit unausweichbarer Sicherheit dargestellt ist, nach der
anderen Seite hin aber gerade dadurch auch verstärkt, weil
der das Ereignis weiterdichtenden Phantasie in der Aus-
malung der Folgen keine Grenze gesteckt wird, so daß
sie schließlich bei einem blutigen Knäuel zerschmettertei"
Glieder anlangt. Und als ob die Künstler es empfunden
hätten, daß sie dies Gräßliche, wenn auch nicht ausgleichen,
so doch einigermaßen wieder gut machen müßten, ver-
wenden sie auf die Darstellung des Momentes die ganze
Kraft ihres großen Talentes, wie wenn sie uns durch das
dem Momente zukommende Interesse, durch die über-
wältigende Kühnheit des Aufbaues, durch das sorgfältige
Abwägen der Gestalten, durch die meisterhafte Gruppierung,
durch die staunenswerte Technik, durch die verschwenderische
Fülle körperlicher Schönheit an den dargestellten Augenblick
fesseln und unsere Phantasie verhindern wollten, die Gräßlich-
keit der nächsten Augenblicke sich fortdichtend auszumalen.
Diese freilich vergeblich aufgewendete künstlerische Kraft
läßt sich selbst noch nach den starken Ergänzungen und
Überarbeitungen erkennen, Welche jedoch im großen und
ganzen die ursprüngliche Gesamtwirkung wieder nach-
empfinden lassen. Nur darin dürfte die Ergänzung Unrecht
haben, daß Zethos hier die Dirke nicht am Haare faßt,
wie es uns ein Kameo in Neapel zeigt: das Gewaltsame,
Unentrinnbare der Situation gewinnt durch diesen Zug
außerordentlich. Das malerische Element der Gruppierung
wird noch durch die naturalistische Darstellung des Kithäron
mit seinem Getier erhöht, zumal der felsige, ansteigende
Bergboden Gelegenheit zu verschiedener Höhe des Planes
der Handlung und zu kühnster Stellung giebt, wie sie
Amphion zeigt. Aber alle diese entschiedenen Vorzüge
können über den Grundmangel nicht hinwegtäuschen: die
beabsichtigte Tragik wird durch das Mittel eines im höchsten
Grade gräßlichen körperlichen Leidens hervorgebracht,
welches zwar noch nicht unmittelbar vor unseren Augen