IIO
DIE TRÄGIK
W ERKEN HELLENISCHER PLASTIK.
und das körperliche Gebiet wird nur nebensächlich, nur
als nicht zu umgehende Grundlage behandelt. Das vorge-
stellte seelische, von körperlichen Gebrechen unberührte
Leiden ist es aber, welchem wir wegen dieser Reinheit
auch die reinste Wirkung zuschreiben. Seinem Wesen nach
ist es aber dennoch nur eine absichtlich hervorgerufene
Schmerzerregung, deren höchster ästhetischer Zweck kein
anderer ist, als durch die Befreiung von ihr ein Wohlge-
fühl zu erwecken.
Dieses vorgestellte seelische Leiden wird uns besonders
tief ergreifen, wenn wir für die Persönlichkeit, in welcher
es gedacht wird, Sympathie haben. Es wird aber im
höchsten Grade zur Wirkung kommen, wenn es zugleich
die Folge von Situationen und Handlungen ist, welche
wir auch um ihrer selbst willen als berechtigt anerkennen
müssen. Das Mitleiden würde in diesem Falle sich jedoch
zu wahrhaftem Entsetzen steigern müssen und die beab-
sichtigte Wirkung, die Befreiung von dem Schmerzgefühle,
in uns wesentlich durch ein zurückbleibendes Gefühl der
Bitterkeit beeinträchtigt werden, wenn nicht das vorgestellte
Leiden dadurch begründet wäre, daß auch die Ursache,
welche das Leiden zur Folge hat, an und für sich betrachtet,
gleichfalls berechtigt ist: hierdurch erscheint das Leiden als
ein zwar schmerzliches, aber notwendiges und in seinen
Gründen tiefer liegendes. Nur ein solches Leiden aber
ttermag in uns ein Mitleiden zu erregen, ohne Bitterkeit zu
hinterlassen, welche die beabsichtigte Wirkung des aus
der Schmerzbefreiung entstehenden YVohlgefühles nicht auf-
kommen ließe. Die Empfindung aber, welche in uns durch
ein vorgestelltes seelisches Leiden erweckt wird, das bei
an und für sich berechtigtem Handeln durch ein anderes
an und für sich gleichfalls berechtigtes Handeln entsteht,
ist die tragische.
Dadurch, daß nicht nur eine Seite, sondern beide
Seiten, jede innerhalb ihrer Sphäre, berechtigt zu ihrem
Handeln sind, diese beiden Sphären selbst aber in ihren
Konsequenzen einander ausschließen, wird der daraus ent-
stehende Kampf der Willkür und dem Zufall enthoben
und auf allgemeine Verhältnisse zurückgeführt: er gewinnt