98 DIE TRAGIK m Weimar: HELLENISCHER PLASTIK.
und fügte so der pergamenischen Kunst ein neues Element
hinzu. Dennoch war sie zu sehr von griechischem Geiste
erfüllt, als daß diese historische Wahrheit zu einer skla-
vischen Nachahmung hätte werden können. Die auch hier
noch herrschende ideale Auifassungsweise benutzte die
Darstellung der historischen Wahrheit, soweit sie ihr zur
Erreichung des Zweckes, der sicheren Erkennung, notwendig
war; darüber hinaus schaltete sie auch jetzt und hier mit
der historischen Treue so souverän, wie es der Kunst zu-
kommt, so lange sie Schöpferin bleibt und nicht Sklavin,
nicht Photographie wird. Wir dürfen daher sicher sein,
daß die Merkmale, welche uns der Künstler als Erkennungs-
zeichen vorführt, historisch genau sind, d. h. so wie sie
wirklich bei den dargestellten Ereignissen vorkamen; wir
dürfen aber nicht umgekehrt schließen, daß, weil der
Künstler nur diese Erkennungszeichen gewählt, die wirk-
lichen Menschen auch genau ebenso nur mit ihnen versehen
gewesen seien. Er vergaß über dem historischen Zwecke
den künstlerischen nicht, und nachdem er jenem genug
gethan hatte, machte er sein Recht auf diesen geltend.
Wenn er uns eine bestimmte Nationalität erkennen lassen
will, so giebt er ihr die charakteristischen, dem Griechen
am meisten auffallenden Merkmale, also dem Perser die
Hosen neben der phrygischen, überhaupt den Asiaten be-
zeichnenden spitzen Mütze und den Schuhen. Ist diese
aber so kenntlich gemacht, so scheut sich der Künstler
nicht, den Oberkörper des Persers nackt darzustellen, sicher
mit vollem Bewußtsein gegen die historische Wahrheit;
er wollte als Künstler eben nicht Gewänder, sondern den
Körper selbst und die in jedem Muskel pulsierende Seele
darstellen. S0 wird hier derselbe, echt griechische Kom-
promiß geschlossen, der in den Heroendarstellungeti zur
Charakterisierung sich mit einem Walfenstücke begnügte,
dann aber dem Künstler den freien Spielraum ließ zu der
edleren, wahrhaft künstlerischen Charakteristik durch die
Bildung des Körpers, des Trägers und Verkünders des
Seelenlebens. Will man, wie es geschehen ist, aus der
Nacktheit des Oberkörpers des uns erhaltenen Persers
schließen, daß wegen dieser Nacktheit, die der historischen