DIE TRAGIK m WERKEN HELLENISCHER PLASTIK. 95
lichen Konjektur Brunns ist es zu verdanken, daß wir eine
Reihe von Statuen als Überreste dieses großen Werkes
kennen. An diese reihen sich noch zwei Einzelwerke in
größerem Maßstabe, weiche sich zwar der durch jenes
Werk ins Leben gerufenen neuen Richtung umschlossen,
aber in selbständiger künstlerischer Weise einige der dort
gegebenen Motive weiter ausbildeten und vertieften. Für
diese Annahme sprechen die weit vollendetere Ausführung,
ebenso wie die weit edlere Auffassung. Alle diese Werke
aber tragen einen scharf ausgeprägten gemeinschaftlichen
Charakter, der sowohl für die Kunstsprache jener Zeit als
auch für die geistige Bedeutung der Bildkunst in ihr, für
die Art der Auffassung der ihr gestellten höchsten Auf-
gaben und somit für das Verständnis der Zeit selbst von
entscheidender Wichtigkeit ist.
Schon der Gesamtcharakter des großen Weihegeschen-
kes in Athen ist ein höchst eigentümlicher. Das ganze
Werk, das aus 60-80 einzelnen Figuren in halber Lebens-
größe bestanden zu haben scheint, und dessen Aufstellungs-
ort mit großer Wahrscheinlichkeit am östlichen Teile der
südlichen Mauer der Akropolis wieder aufgefunden worden
ist, setzte sich aus vier Gruppen zusammen, die in einem
leicht erkennbaren Zusammenhange stehen. In Pergamon
durfte Attalos sich allein feiern: in Athen mußte er sich
die Berechtigung dazu erst durch eine Huldigung Athens
gleichsam erkaufen. Er that dies durch die Darstellung
der ruhmvollsten Schlacht der Athener im Kampfe gegen
die Barbaren, des Sieges bei Marathon, mit welchem die
Athener Griechenland gegenüber dieselbe Aufgabe erfüllt
hatten, die er jetzt im Kampfe gegen die Gallier gelöst
hatte: Schutz der Kultur gegen den Einbruch der Barbaren.
Aber der einfach historische Ruhm genügte nicht. Sollte
dieser in das rechte Licht treten, so mußte ihm ein erhabenes
Gegenbild gegenübergestellt werden, durch dessen Gleich-
setzung erst das historische Ereignis in seiner ganzen Be-
deutung hervortreten konnte. Dies war die Besiegung der
Amazonen, bei deren Darstellung wohl Theseus die Haupt-
rolle gespielt haben mag, so daß ihm, dem Landesheros,
Miltiades und die Seinen als gleichberechtigt, als im Ruhme