90 EIN GRUNDPROBLEM ms KUNSTGEWERBES.
mus; in der späten Gotik, im Rokoko ist der Naturalismus
zum entschiedensten Durchbruch gekommen, wenn sich
dort das Astwerk bildet und hier iigürliche Balkenträger
den Ausdruck momentaner Seelenstimmung erstreben.
In der geschichtlichen Entwickelung folgt natürlich
das Kunsthandwerk der von der Kunst überhaupt ein-
geschlagenen Richtung. In einer Zeit, welche außerhalb
einer sich naturgemäß vollziehenden, die jedesmaiige Gegen-
wart ganz und im wesentlichen gleichmäßig ergreifenden
Entwickelung steht, welche tastend und hilfsbedürftig bald hier-
hin, bald dorthin greift, um festen Boden zu finden, ist es
jedoch berechtigt und notwendig, den sicheren Ausgangs-
punkt wissenschaftlich festzustellen. Das Resultat ist dies,
daß nur die stilisierende Behandlung der bildlichen Formen
demCharakterderkunstgewerblichenSchöpfungentsprechen.
Auf Schulen sollte daher diese Behandlung wie die fest-
stehende grammatische Regel gelehrt werden: nur sie
gestattet es, dem wichtigsten Gesichtspunkte die herrschende
Bedeutung zu verleihen, die er verdient, dem Einführen in
die Charakteristik des Stoffes; nur sie gestattet es aber
auch, die dienende symbolische Bedeutung der bildlichen
Formen auf Grund der richtig erkannten, dem besonderen
Stoffe innewohnenden Kräfte in den Dienst eben dieser
Kräfte zu stellen und so das richtige Verhältnis zwischen
beiden herzustellen. Von diesem sicheren Boden aus mag
dann das Genie seine Flüge unternehmen: auch bei dem
kühnsten wird es des rechten Leitsterns nicht entbehren.
Das nachschaffende Talent aber wird durch die daneben
hergehende historische Betrachtung nicht zu verkehrter
Nachahmung, nicht zu gedankenloser Vermischung der
Formen, nicht zu einer mit der konstruktiven Kraft des
Stoffes im Widerspruch stehenden Formenbildting gelangen.
Durch derartige Schöpfungen kann auch das Publikum all-
mählich wieder ein Verständnis für die Bedeutung des
Stoffes sowie der Form im Kunstgewerbe und ihrer Be-
ziehung zu einander gewinnen. Damit fängt aber sein
Urteil an, in gutem Sinne ebenso maßgebend für die Pro-
duktion zu werden, wie es dies jetzt meist noch in schlechtem
Sinne ist. Vielleicht läßt sich dann auch die größte Gefahr,