Em GRUNDPROBLEM DES KUNSTGEWERBES. 89
Die bildliche Form giebt entweder ein allgemein an-
"deutendes oder ein realistisch getreues oder ein die Natur
gleichsam selbst ersetzendes naturalistisches Bild. Auf der
ersten Stufe bewahrt der Stoff am deutlichsten seine Natur
und kommt daher in seiner Eigentümlichkeit am meisten zur
Geltung, auf der zweiten wird er der keine eigene Bedeutung
beanspruchende Träger der zur Hauptsache gewordenen
Form, auf der dritten sucht der Stoff seine Natur abzuleug-
nen, damit sich die Form entwickeln kann, als 0b sie ihren
eigenen Stoff zur Verfügung hätte. Bezeichnet man die
erste Stufe als die stilisierende, die zweite als die realistische,
die dritte als die naturalistische, so ergiebt sich leicht aus
dem Verhältnis, welches bei der kunstgewerblichen Schö-
pfung die bildliche Form zum Stoffe hat, daß hier, wo sie
als helfende und dienende Macht, als sprachliches Ausdrucks-
mittel erscheint, ihr nur die Stellung zukommt, bei welcher
der Stoff das herrschende Element bleibt. Die Bildform
wird sich also den stilisierenden, nur allgemein andeuten-
den Charakter bewahren müssen. Dieser aber wird wesent-
lich darin bestehen, daß die einzelnen Teile sich den
einfachsten Formgesetzen unterwerfen, wie sie bei rein
linearen Gestaltungen herrschen, und in welchen jede in-
dividuelle Regung unterdrückt wird, den Gesetzen des
Parallelismus, der Symmetrie, der Proportionen. Es ist
klar, daß hierdurch in das Ganze der kunstgewerblichen
Schöpfung Stileinheit kommt: die nichtbildlichen Gestal-
tungen des Gegenstandes unterliegen denselben Formgesetzen,
welchen sich die bildlichen Formen gleichfalls fügen; in
ihnen klingt also dasselbe Formgesetz wieder, welchem
die praktische Umgestaltung des Stoffes ihre Bildung ver-
dankt, soweit sie ästhetische Wirkung erzielen will. Sowie
der Realismus eindringt, entsteht ein Widerstreit zwischen
dem linearen und dem bildlichen Teile der Gesamtgestal-
tung, der zu schreiender Dissonanz wird, sobald die natu-
ralistische Form sich herandrängt. Das stilisierende Kapital,
wie es die altgriechischen, die strengromanischen und
frühgotischen Formen zeigen, weist jene Harmonie deutlich
auf; das spätromanische Blattkapitäl, das gotische in seiner
Blüte zeigt den zum Naturalismus heranwachsenden Realis-