86 EIN GRUNDPROBLEM DES KUNSTGEWERBES.
Unabhängigkeit erfreuen und ihre eignen Wege gehen
werden.
Die Feinfühligkeit für die Natur des Stoffes und seiner
daraus entspringenden praktischen Verwendung, die Em-
pfindung für das, was man ihm nicht zumuten kann, die
Fähigkeit aus der Erkenntnis der Natur des Stoffes heraus
die Formen so umzugestalten, wie es dieser Natur entspricht,
kann man Stilgefühl nennen. Nur muß man sich dabei
bewußt bleiben, daß damit nur eine Seite des Stilgefühls
bezeichnet ist, nur die auf die Natur des Stoffes bezügliche
Seite (Vgl.S. 40, 65). Verstöße gegen dieses Stilgefühl finden
sich im praktischen Kunstgewerbe tagtäglich, ja man kann
sagen, daß der Geschmack des großen Publikums sich gerade
dann am meisten angeregt fühlt, wenn einem Stoffe etwas
zugemutet wird, wogegen sich seine Natur am meisten
sträubt. Es ist, als ob allein dieser Widerspruch imstande
wäre den stumpfen Geschmack aufzurütteln, damit er
überhaupt zu einer Thätigkeit gelangt. Es ist dies der
Standpunkt, auf welchem nicht das Kunstwerk, sondern
das Kunststück gefällt: dieses ist aber um so größer und
darum um so geschätzter, je mehr es dem gewöhnlichen
Verfahren widerspricht.
Haben wir oben gesehen, daß bei der Vereinigung
eines Stoffes mit einer seiner Natur ursprünglich fremden
Form zu einer neuen Einheit, welche den Eindruck der
Notwendigkeit gerade solcher Existenz hervorbringt, die
Form der nachgiebigere Teil ist, so folgt daraus noch nicht,
daß sie für das richtige Verhältnis der beiden ursprünglich
einander fremden Elemente nicht auch eine große Bedeu-
tung habe. Diese wird durch den eigentümlichen Zweck
bestimmt, der sich nicht damit begnügt, die Form überhaupt
in einem ihr fremden Stoffe zu gestalten, sondern der sie
an einem zu ganz besonderem praktischen Gebrauche her-
gestellten Gegenstande aus einem ihr fremden Stoffe ver-
wendet. Es tritt also hier der bereits berührte spezifische
Unterschied des kunstgewerblichen Erzeugnisses von dem
bildkünstlerischen in Wirksamkeit. Bei dem bildkünstleri-
sehen liegt der Zweck in der Gestaltung der Form be-
schlossen: auch auf sie übt der gewählte Stoff seinen EinHuß