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Erfahrung. vDenn 1) wer von IRIS Wird nicht, wenn er es ver-
suchen wollte, ein berühmteS Werk des Apelles oder Timanthes,
welches uns Plinius beschreibt, auf eine würdige Weise wirklich
darzustellen, etwas Abgeschmacktes oder der erhabenen Grösse
der Alten durchaus Fremdes hervorbringen? Indem jeder sich
nämlich seinem eigenen Naturell überlässt, bringt er anstatt
eines köstlichen abgelegenen Weines, der Kraft und Milde ver_
eint, ein junges ungegohrenes Gewächs zum Vorschein, und
beleidigt dadurch jene grossen Geister, welchen ich mit der
höchsten Ehrfurcht nachstrehe, mich jedoch mehr begnüge, die
Spuren ihrer Fusstritte zu verehren, als dass es mir, ich be-
kenne es offenherzig, je einfiele, dieselben auch nur in der
blossen Vorstellung erreichen zu könnena. Nehmen Sie gütig
auf, was ich, durch unsere Freundschaft ermuthigt, mir die
Freiheit genommen habe, Ihnen zu schreiben. Ich schmeichele
mir mit der Hoffnung, dass Sie nach einem so guten vVorge-
richt2)ß uns nicht die vHauptmahlzeitß verweigern werden, die
wir alle so sehnlichst erwünschen; denn von Allen, die bis jetzt
von diesem Gegenstande (der modernen Malerei) gehandelt, hat
noch keiner unseren Appetit befriedigt. "Denn auf die Indivi-
duen muss man eingehen, wie ich schon gesagt habe 3)a. Ich
empfehle mich von ganzem Herzen Ihrem Wohlwollen und sage
Ihnen meinen Dank für die Ehre, die Sie mir durch die Dar-
bringung Ihrer F reundschaftsversicherungen, so wie des Buches
erwiesen haben. Ich bleibe auf ewig der Ihrige.
1) Von hier ab bis zu dem Anführungs-Zeichen ist die Uebersetzung
Waagen's benutzt. Hist. Taschenbuch von Fr. v. Raumer v. J. 1838, S. 277.
2) „Promulsis"; Vortisch, Speisen, die "bei den alten Römern zur
Anreizung des Appetites zum Eingange der Mahlzeit gegeben wurden,
etwa mit den „Entree's" heutiger Tafeln zu vergleichen. Im Gegensatz
dazu steht die Haupt-Mahlzeit, „caput coenae".
3) Nam oportet venire ad individua, ut dixi.