Volltext: Künstler-Briefe ([Bd. 1])

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den, einen Zeitraum von mehr als fiinfzig Jahren umfassen- 
den, Briefen- manche erwünschte und Wichtige Ailfklärilng 
erhalten. Auch bei diesem Künstler müssen wir den eigent- 
lich künstlerischen Charakter, den Styl und die Kunstweise 
seiner Werke im Allgemeinen als bekannt voraussetzen, und 
künnen dieselben hier nur in se Weit berühren, als es sich 
darum handeln wird, jene Uebereinstimmung zwischen dem 
Künstler und dem Menschen hervortreten zu lassen, auf die 
wir schon üfter bei anderen Schilderungen hingewiesen ha.- 
ben, und fiir welche auch hier wiedeiwlm die Briefe wichtiges 
Zeugniss ablegen. Wir haben oben Tizian mit Michel An- 
gelo zusammengestellt. Und in der That, viel Verwandtes 
liegt in jenen beiden Künstlern. Beide zeigen dieselbe kräf- 
tige Natux, dieselbe Grundlage einer mäehtigen und fast un- 
erschüpflichen Lebenskraft, die sie bis zu ihrem Tocle nicht 
verlassen hat. Beide vor Allem jene rastlose und unermüd- 
liche 'l'hätigkeit in ihrena Berufe, mit der NIichel Angelo 
sich noch im Greisenalter zur Uebernahnle des grüssten und 
mühevollsten aller seiner Werke entschliesst, und mit wel- 
cher Tizian noch gegen das Ende seines fast ein Jahr" 
hundert dauernden Lebens eine grosse Anzahl von Bildern 
vollemlet, die eher den Stempel jugendlicher Frische, als clen 
des Greisenalters an sich tragen. 
Je grässer aber diese Verwandtschaft ist, um so auifallen- 
der sind die Verschiedenheiten, dje sich an den beiden bemerk- 
bar machen. Als den Hauptunterschied ihrer Naturen künnte 
man es hinstellen, dass bei Michel Angelo diese ganze Le- 
benskraft gleichsam nach in11en, bei Tizian dagegen nach 
aussen gekehrt sei. Michel Angelo lebt und wirkt iiir seine 
Ideen, ihnen bringt er sieh selbst und sein ganzes Dasein 
zum Opfer der. Auch Tizian lebt seiner Kunst, aber diese 
hat wieder ihm und seinem persänlichen Vortheil zu dienen. 
Michel Angelo, wo er nicht getriebeu ist, in den1ia1npf' 
des äi-"fentlichen Lebens einzugreifen, wie hei dem letzten 
Aufglimmen der Hofentinischen Freiheit, lebt abgesehlossen 
von der Welt, den Freuden der Geselligkeit entfremdet, nur 
seinen Ideen und Schäpfungen hingegeben. Er hat, wie er 
Selbst zu Condivi gesagt, trotz seiner Reichthümer immer 
RIS Gin Armer gelebt l). Tizian führt ein glänzendes Le- 
mi sono 
1) Piü volte gli ho sentito dire: Ascanio, per riccho ch'io 
stato, sempre son vivuto da povero. Condivi p. 81.
	        
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