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und ich muss gestehen, ich kann mir kein rührenäeres Zeug-
niss reinster Liebe denken, als die Aeusserung in eines sol-
chen Mannes MImde, es thäte ihm nichts so laid, als dass er
Vittoria, als er sie auf ihrem Sterbebette gesehen, nur die
Hand, and nicht auch die Stirn oder das Antlitz geküsst
habe l)!
TIZIANO
VECELLIO.
Je länger und spezieller man sich mit der Geschichte
der Künstler und anderer hervorragenrler Persünlichkeiten des
XVI. Jahrhunderts beschäftigt, um so Weniger kann man
sich eines gewissen Staunens erwehren, in wie reicher Fülle
der Himmel Geistesgaben aller Art über die Menschen jenes
in so vielel- Beziehung glückliehcn Zeitalters ausgegossen hat.
Welche Gebiete des Wissens unfl der Kunst Werden damals,
nicht etwa sorgsam ausgemessen, wie es der Beruf unserer
Zeit zu sein scheint, sondern neu erobert 11m1 zu jugendlich
frischen Schüpfungen benutzt! Welch eine Zahl grosser und
imponirender Persünlichkeiten Wirken hier neben und gegen-
einander! Welche glänzende Existenzen sieht man fast me-
teorartig sich cntfalten und auf den Raum Weniger Jahr-
zehende die Erlebnisse und Genüsse ganzer lVfenschenleben
zusalnmendrängen! Und im Gegensatz dazu, welche grosse
und mächtige Gestalten treten uns entgegen, die von uner-
schüpflicher Lebenskraft durehüossen, weit über das Maass ge-
Wühnlicher Lebensdauer nicht nur leben, sondern wirken unrl
thätig sind, und der geistigen Entwickelung ganzer Jahrlzun-
derte durch ihre Werke die Bahnen ebnen!
Eine solche Gestalt war Michel Angelo eine solche
ist Tizian, dessen Leben 11m1 Charakter aus den nachfolgen-
1) Ed egli all' incontro tanto amor le portava, che mi ricordo
dhverlo sentito dire che (Yaltro non si doleva, se non che quando
Pundü a vedere nel passar di guesta vita, non cosi le bacio la fronte
0 la faurciu, come bacib la mano. Condivi p. 78.