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dass sich unser Brief mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit zwi-
schen Anfang Mai und Anfang Juli desjahres 1557 ansetzen
lassen kann.
Und um dieselbe Zeit scheint auch der Brief geschrieben
zu sein, dessen Uebersetzung ich unter Nr. 72 nach der
deutschen Atlsgabe (les Vasari S. 388 mitgetheilt habe. Es
ist derselbe walusclieinlich nur (las Bruchstücl: eines grüsse-
ren Briefes, er scheint indess sehr geeignet zu sein, (lie da-
malige Stimmung (les Greises zu zeichnen, der seinen Trost
bei allen Kränkungen in der Dichtkunst suchte 11m1 fand.
Vasari erzählt nämlich, Pin-o Ligorio, der auch sonst
keinen guten Ruf geniesst, sei in die Dienste PauPs IV. ge-
treten und bei rlem Bau von S. Peter besclzäftigt woräen,
11m1 habe in dieser Stellung Michel Angelo vielfach ge uält
und ihm nachgesagt, ,,er sei kindisch geworden." qDas
habe Michel Angelo sehr erzürnt und ihn bewogen nach Flo-
renz zu gehen. Indessen erwog er sein hohcs Alter, er war
schon 81 Jahr alt, uncl äusserte daher, a-ls cr nach Gewohn-
heit an Vasari schrieb und ihm verschiedene Sonette zusen-
dete, gegeil diesen: das Ende. des Lebens liege ihm nahe,
cr müsse Acht geben, wohin seine Gedanken gerichtet wäiren,
aus seinen Briefen werde er wohl sehen, dass es Abend ge-
worden bei ihm; und kein Gedaiuke steige in ihm auf", in den
nicht der Tod sein Zeichen gedrückt.
In ähnlicher TVeise rührend und ergreifend sind (lie Kla-
gen eines hochverdienten und hoeh berühmten MIELHHBS, der,
obschon einem ganz audern Lebensberuf angehürig, mit Michel
Angelo (lie unermüdliche nnd rastlose Thätigkeit, so Wie das
hohe und glüekliche Alter, das jener erreichte, gemein hatte.
Der alte Heim sagt in seinem 'l'agebuch vom 27. April
1831 (er war dzunals fast vierundaehtzig Jahr alt): ,,Ich bin
müde, matt, träge und unlustig zur Arbeit, mag mich oft nicht
einmal mit meinen Moosen (seinem Lieblingsstuclium) beschäf-
tigen; das Gedächtniss wird immer untreuer, meine Füsse
stehen nicht fest und das Gehen mfird mir sauer. Kurz ich bin
ein alter Menseh: Senectus ipse moi-bus." Und fast ein Jahr
darauf klagt er: ,,Das Schlimmste ist die Schwäche des Ge-
dächtnisses. Zuweilen bilde ich mir ein, ich hätte noch
Kraft 11m1 Geist genug um zu lurakticiren; indessen gar bald
ruft mir die Vernunft zu: Ohne Gedächtniss ist es ans mit
dir in diesem Punkte gewähne dich, nichts zu thun und
fhul zu sein, S0 fordert es dein Alter." Leben Ernst Ludwig
KünsÜer-Briefe. I. 16