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ehe er zu jener seltenen Freiheit gelangte, Welche das Er-
worbene wieder als ein natürlich Gewordenes erscheinen
lässt; ein Umstand, der auch dem grässten Zeitgenossen Ra-
faefs, Michel Angelo, nicht entgangen ist. In diesem
Sinne ist nämlich jene von Condivi erhaltene Aeusserung
Michel Angelds aufzufassen, nach weleher Rafael zu wenig
durch Natur und zu viel dureh das Studium in der Kunst
erlangt, hätte, und die, wenn auch nicht von absoluter, so
doch von sehr grosser relativer Wichtigkeit für die Beurthei-
lung Rafaefs zu äein scheint.
Wir verstehen vielmehr jene Bemerkung nur so, dass,
naehdem Rafael jenen Entwiclzelungsgang innerlich durchge-
macht batte, das Leben sich ihm äusserlich so günstig und
leicht, Wie nur je einem bevorzugten Lieblinge gestaltete, dass
er ohne Mühe zu einer anvs Wunderbare grenzenden Herr-
schaft iiber die Geister selbst der Kunstgenossen! und
ohne allen Kampf zu einem so liehten Hähenpunkt des Le-
bens gelangte, wie zu erreichen nur wenigen, und dann fast
immer nur in Folge unablässigen Ringens und Kämpfens voll
Schmerz und Herzeleid vergännt wird.
Das ist es namentlich auch, was Rafael S0 wesentlich
von Michel Angelo unterscheidet, der seinerseits wiederum
als seltenes Beispiel und unerreichbares Vorbild der zuletzt
bezeichneten Individuen gelten kann, wie wir in dem Folgen-
den noch nachzuweisen Anlass ünden Werden. Aus djeser
Grundverschiedenheit ihrer beiderseitigen Naturen heraus, hat
man allein auch alles dasjenige zu beurtheilen, was über
das persünliche Verhältniss jener beiden grossen Männer zu
einander überliefert Worden ist, und man muss sich wohl hü-
ten, (las nicht in Abrede zu stellende Bewusstsein jener bei-
den übe-r diese ihre durchauS verschiedene Naturen etwa als
Aeusserung und Folge einer kleinlichen Eifersucht aufassen
zu wollen.
Dass eine solche, wenn auch vielleicht von Schülern und
partheiischen Anhängern, im Ganzen und Grossen weder von
Rafael noch von Michel Angelo gehegt Worden sei, läsgt Sich
vor Allem aus einer aufmerkszunen Betrachtung dessen nach-
weisen, was Vasari über RafaePs Wesen und Charakter bei-
bringt. Niemand konnte mehr, als Vasari, von der Grüsse
seines angebeteten Meiäters Michel Angelo überzeugt sein,
und Niemand kann scdliinere und ehrendere Wdrte über den
an Liebe und Humamtät so reichen Charakter RafaeYs äus-