THEORIE.
eine Kunstschöpfung wirklich begreifen zu können, sofern
nämlich die dienenden Geister-keine Einsprache erheben. Er
wird anfangen über den augenfälligen Unterschied zwischen an-
tiker und moderner Plastik ganz entsetzlich zu jammern. „Mit
der klassischen Nacktheit der alten Götter trug man die wahre.
Bildhauerkunst zu Grabe!" Gestützt auf den Ausspruch unserer
von Weisheit triefenden Archäologen kann nur der unbeklei-
dete Körper Gegenstand des Meissels sein. Die christliche
Kunst aber, die trotz alledem noch unser heutiges Leben be-
herrscht, kennt nun nichts Nacktes. So hat in den Augen der
in der Antike die höchste Kunst Erblickenden eine christliche
Plastik, also auch eine moderne. etwas in sich Widerstrebendes,
welches sie stets verhindern wird, weiter zu wachsen und die
alte Blütezeit wieder aufleben zu sehen. An einem Mangel wird
indes die Plastik ewig kranken und über diese im Material
liegende technische Unvollkommenheit kann man nie oft genug
ein Klagelied anstimmen, dass das allein geistig sprechende, das
Auge, der Darstellung in Formen widerstrebt, in plastischer
Ausführung stets tot bleiben muss.
Will man noch weiter über Plastik schwafeln, so beklage man,
dass in den romanischen Ländern dieselbe ihr höchstes Ziel jetzt
nicht so sehr in der Grösse ihrer Aufgaben, nicht in der Monu-
mentalität als vielmehr in der Unübertrefflichkeit der technischen
Ausführung, in der virtuosen Behandlung des Materials sucht.
Freilich erklärt sich dies teilweis durch die klimatischen Ver-
hältnisse. Den Marmor zernagt in den nördlichen Gegenden bei
Schnee und Eis der Zahn der Zeit rücksichtslos, die Glut des
ewig heitern Himmels der Südländer dagegen haucht ihm warmes
Leben ein. So ist uns dies edelste Material in der Hauptsache
versagt, wenn die betr. Statue nämlich aufgestellt und nicht in
einem Museum begraben werden soll. Oder aber man macht die
Statue dennoch aus Marmor und sperrt sie das ganze Jahr in ein