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Vierter
Abschnitt.
sehen, und Jeder sucht dem andern seine Empfindungen
mitzuteilen Es ist ein ordentliches Fest, wenn eine
Gesellschaft sich verabredet hat, einen Vormittag anzu-
wenden, nm irgend eine Sammlung von Kunstwerken ge-
meinschaftlich zu sehen. Des Sonntags werden vor-
züglich solche lehrreiche Wanderungen angestellt. woran
dann auch Künstler Teil nehmen, welche sonst die ganze
Woche mit Arbeiten beschäftigt sind, und denen diese nun
eine ebenso angenehme als nützliche Erholung sind."
Das hauptsachlichste Ziel solcher Wanderungen war
stets das Vatikanische Museum, obgleich es wie wir
Wissen damals erst in der Entstehung begriffen war. Die
berühmten Werke des „Belvedere" waren ja schon seit
langer Zeit dort vereinigt, und diese der Laokoon,
der Apoll, der Antinous (Hermes) und der Herkulestorso
galten schlechthin als die vorzüglichsten Werke der
Welt. Noch lag Athen mit seiner Akropolis in (lammernder
Ferne; wenn die Kunst sich nach der Antike hinivenden
sollte, so glaubte sie in den Werken des Belvedere deren
Wesen aufls stärkste konzentrirt, auf's höchste sublimirt
zu iinden; eine Kritik wagte sich an sie kaum heran.
Sind doch auch Winckelmanifs Beschreibungen des Apoll
und des Torso a begeisterte Hymnen, nicht wissen:
schaftlich kritische Beurteilungen! An diesen Werken
studirte der junge Künstler, Bildhauer wie Maler; hier-
her richtete er seine Schritte, wenn er nach Rom kam,
und hierher kehrte er auch in späterer Zeit immer
wieder zurück. Hierher Wallfahrteten auch die kunst-
begeisterten Reisenden als nach dem Allerheiligsten der
ewigen Stadt. Nächst dem Belvedere waren es die
Stanzen Rafaels, welche die höchste NViirde des Vatikan
bedingten. Die Verehrung; und das Studium, welche man
Rafael widmete, kamen fast denen der Antike gleich.
Barock und Roccoco waren unter dem Einfluss von
Winckelmann und Mengs in die tiefste Verachtung ge-
sunken; für die aufsteigenden Entwicklungsstufen der
Renaissance fehlte noch das Verständnis; so blieb im
Wesentlichen die schmale Spitze des höchsten Gipfels,